Dieser Morgen beginnt zwiefach anders: Die
erstmals von
Anfang an scheinende Sonne müht sich redlich gegen die eisige, bisher so noch nicht
erlebte Kälte. Die frühe Sonne nütze ich für ein paar Aufnahmen von der "Beladeprozedur"
der Lamas.
Meine Zehen haben keine Chance. Erst eine Stunde nach dem Aufbruch melden sie sich vollständig wieder zurück. Ich sinne nicht das erste Mal über eine Lösung für den Potosí nach. Dort werden wir in über 5000 Meter Höhe übernachten. Irgendwie müssen die Schuhe über Nacht mit in den Schlafsack. Gleichgültig ob der dadurch dreckig wird oder nicht.
Ein "Mirador", mit einzigartigem Rundblick ist uns für heute versprochen. Davor gilt es zunächst den Grasrücken hinter dem Lagerplatz zu besteigen, dann wieder hinab in eine Senke und schließlich einigermaßen anstrengend zum Aussichtsplateau. Ich suche mir heute meinen eigenen Weg. Anfangs "rase" ich den Hang hinauf, um meine Zehen warm zu bekommen. Danach laufe ich seitlich versetzt, um ein paar Fotos von der Gruppe gegen die Umgebung zu schießen.
Und im Aufstieg zum "Mirador"
entdecke ich eine
Gruppe Lamas und Alpakas etwas abseits grasend. Natürlich wittere ich wieder
eine Chance
für spektakuläre Tierfotos. Ich nähere mich den Alpakas auf etwa 20 bis 30
Meter. Keiner aus der Gruppe bekommt mit was sich nun blitzschnell vollzieht.
Eines der Tiere stürzt ansatzlos und ohne Vorwarnung den Hang herunter auf mich
zu. Zum Überlegen bleibt keine Zeit. Ein jäher Impuls gibt mir zweierlei ein:
Seitlich ausweichen und dabei einen Zischlaut ausstoßen. Der Angreifer dreht auf
den letzten Metern ab ... Unfähig zu irgendeiner Handlung stehe ich sekundenlang
da und spüre, wie das in die Blutbahn eingeschossene Adrenalin meinen Puls auf
den Mond katapultiert. Mein Herz schlägt mir bis zum Hals - nein - bis unter die
Schädeldecke. Noch nie habe ich einen Schrecken so brachial gefühlt wie diesen.
Kündigt sich so ein nahender Kollaps an? Einschließlich Abklingen dauert das nur
Sekunden und die Erklärung scheint mir einfach: Zuvor stieg ich in ziemlichem
Tempo auf und hatte sicherlich schon 80 oder mehr Prozent Maximalpuls. Dazu dann
das alle Muskelfasern stimulierende Adrenalin. War ich in Gefahr? Durch das
Alpaka oder meinen wild schleudernden Kreislauf? Ich weiß es nicht. Zum Glück
hatte das Alpaka dann doch wohl mehr Angst vor mir, als ich vor ihm ...
Unerklärlich: Warum
habe ich diesen Zisch- oder Spucklaut ausgestoßen? War das
Zufall, vom Schreck induziert? Merkwürdig allerdings, dass ich ähnliche Laute zuvor
mehrmals von Einheimischen gehört habe, die Tiere vor sich her trieben. Es kann
aber doch nicht sein, dass bei einer vom Instinkt gesteuerten, nicht durch Überlegung
zustande gekommenen Handlung eine Wahrnehmung einfach so umgesetzt wird!???
Der Mirador entpuppt sich dann als riesiges,
vegetationsloses Hochplateau. Es bietet eine fantastische Rundsicht. Heute
erspähen wir im Westen tatsächlich auch die Spitze des "Sajama". Er steht in der
westlichen Kordillere, 20 km vor der" Grenze zu Chile und ist Boliviens höchster
Berg mit stattlichen 6549 Metern. Weder fotografisch, noch mit meinen dürren
Worten lässt sich dieser Anblick übermitteln. Einfach nur ergriffen da stehen und
staunen:
Hinter uns ist fast die gesamte
"Cordillera Real zu überblicken, vom "Illampu" (6368m), zu dessen "Füßen" wir starteten, bis zum
"Illimani" hinter La Paz, der gerade noch über
vorgelagerte Höhen lugt. Auf der gegenüberliegenden Seite schweift der
Blick über die schier endlosen Weiten des Altiplano. 4800 Meter ist der
Buckel hoch, auf dem wir stehen.
Eine kann das gebotene Panorama nicht genießen.
Birgit hat heute gewaltige Probleme mit der Atmung, kam gar ins
Hyperventilieren beim Aufstieg. In sich gekehrt, fertig, zeitweise weinend sitzt
sie auf einem
Stein. Ihr Mann kümmert sich um sie und auch Ines findet ein paar tröstende
Sätze. Sie erholt sich zusehends und kann dann die Wanderung fortsetzen. Ihren
Rucksack übernimmt unser stiller, meist einige Meter abseits laufender
Schutzengel: Guillermo! Er ist einer der drei Helfer des Kochs und übernimmt tagsüber
die Aufgabe, die Gruppe nach hinten abzusichern. Falls erforderlich übernimmt
Guillermo den Rucksack
erkrankter Trekker - zusätzlich zu seiner eigenen Last.
Nach ausgiebiger Rast führt uns Moises der
Länge nach über das Plateau. Geradewegs auf das Ziel meiner Bergträume der
letzten Monate zu: Der "Huayna Potosí" (sprich: "Weina Potosi", mit Betonung auf
dem 'i' von Potosí) hat sich ins Blickfeld geschoben. Mächtig, klotzig, mit
gewaltigen Gletschern beherrscht er als singuläre Berggestalt den Blick voraus.
Sein Anblick beschleunigt meinen Puls. Wird das zu schaffen sein? Bleibe
ich gesund? Werde ich an dem Tag kräftig genug sein?
Das Plateau namens "Janchallani" endet vor
einem steil zum Altiplano hin abfallenden Abgrund. Hier tut Moises etwas überaus
Unerwartetes: Er nestelt sein Handy aus dem Rucksack und versucht Verbindung zu
bekommen. Tatsächlich hat er wenig später die Agentur an der "Strippe". Endlich!
Holger erfährt was mit Daniel geschah: Der war bereits am Tag, nachdem er uns
verlassen hatte, nach Deutschland zurückgeflogen. Was mit Daniel los ist wissen
wir so zwar (noch) nicht, immerhin kann Holger beruhigt davon ausgehen, dass
Daniel
zu Hause eine gute medizinische Versorgung bekommt.
Wir verlassen das Hochplateau und steigen in das Tal des "Rio Janchallani" hinab. Gegen den Talschluss ziehend, gelangen wir zu einem kleinen See. Zeit für die Mittagsrast. Auf der gegenüberliegenden Bach- und Seeseite können wir einige "liebestolle" Lamas bei Verfolgungs- und Flirtübungen beobachten. Auch dieses kleine Hochtal bietet viel für's Auge. Aber schon bin ich geneigt, das als normal zu betrachten, nach all den aufregenden Postkartenschönheiten der letzten Tage.
Gleich nach der Rast müssen wir noch einmal alle Kräfte mobilisieren. Mehrere Hundert Höhenmeter hinauf gilt es, einen Höhenrücken mit sich anschließendem Pass ("Jurikhota", 4900m) zu überwinden, der uns vom nächsten Tal trennt. Von hier oben hat man einen tollen Blick in die Flanke des "Huayna Potosí".
Der Tag war voller "Aufreger", und doch haben
wir erst frühen Nachmittag. Eigentlich braucht nun nichts Besonderes mehr zu
geschehen, zum Schreiben habe ich schon ausreichend Stoff ... Dann können wir zum
ersten Mal in Richtung des heutigen Lagerplatzes zur "Laguna Jurikhota" sehen. Es
gibt immer noch eine Steigerung! Die Augen erfassen ein Bollwerk aus schwarzem
Fels und Eis über der stahlblau schimmernden "Laguna". Es ist die berühmte "Condoriri-Gruppe"
(5648m). Ein Traum, einmalig, unbeschreiblich schön. Erst auf den x-ten Blick bemerken wir die kleinen gelben Tupfer dort unten am Ufer der Laguna.
Unser
Lager erwartet uns schon. Beim Abstieg hänge ich wie häufig ein wenig zurück. Das
gibt mir Gelegenheit einen Schutthang zur kräftesparenden "Abfahrt" zu
nutzen. Auf diese Weise erreiche ich die Lagune zeitgleich mit der Gruppe. Unser
Zelt steht heute ziemlich abseits in "Toplage" auf einem Felsen. Heute muss es
wieder sein! Ganzkörperwäsche! Das Wasser im Abfluss der Lagune ist eiskalt und
tut den geschundenen Füßen gut. Koch- und Esszelt gibt es heute keines. Am
Seeufer steht eine gemauerte Hütte und da unsere Mannschaft zuerst da war,
hat sie das primitive Gelass mit Beschlag belegt.