Der Tag beginnt mit einer Enttäuschung: Noch
immer liegt der Lagerplatz in dichtem Nebel. Doch noch vor dem Frühstück
schimmert erstes Himmelblau durch die grauen Schwaden, zeigen Bergflanken in der Nähe
Konturen. Die Lagermannschaft sorgt, wie jeden Morgen bisher, für Stress, weil
sie schon darauf warten, dass wir unsere "Bleibe" endlich räumen, um sie
unmittelbar danach zu demontieren. Ines meckert und ich gebe den Protest beim
Frühstück an Moises weiter. Prompt fallen alle in mein Lamento ein. Mal sehen,
ob es morgen anders ist.
Erstmals ist der Himmel beim Abmarsch nicht
wolkenfrei, verspricht dennoch gutes Wetter. Nebelschleier verwehren die
sicher wunderschöne Sicht über das Tal, in das wir nun absteigen. Nach hundert
Höhenmetern stehen wir vor einem ernsthaften Hindernis: Der "Rio Chiquini" führt
auch in der Trockenzeit viel Wasser. Moises läuft mit uns ein Stück
flussaufwärts, ohne eine brauchbare Furt zu finden. Der ungeduldige Torsten
versucht trotzdem überzusetzen, balanciert auf ein paar großen Steinen und -
rutscht
auf den vereisten Brocken ab. Zwar ist er drüben, hat dafür aber nasse Füße. Und
das bei diesen Temperaturen. Ja, ja, meine Zehen haben sich wie jeden Morgen
abgemeldet. Ich mache mir darüber auch bange Gedanken. Nicht in Bezug auf das
Trekking. Aber was soll am geplanten 6000er werden, wenn mir hier schon die
Zehen "abfrieren"?
"Scout" Moises hat den einzig möglichen Übergang
entdeckt. Die Stelle ist schmal genug, um sie im Sprung zu überwinden. Einer
nach dem anderen springt hinüber. Teils mit, teils ohne Rucksack. Wir überqueren
noch ein paar schmale Seitenarme des Baches auf der flachen Talsohle und stehen
Minuten später vor einem Steilhang. Das also hatte Moises mit seinem Ausdruck
von der "Leiter" gemeint! Wir konnten uns aussuchen, ob wir den Pass auf weiten,
sicher langweiligeren Wegen umgehen oder über eine steile "Leiter" ersteigen. Die Entscheidung war einmütig, vielleicht auch nur, weil sich niemand eine Blöße
geben wollte. Also rein in die "Wand" oder "rauf auf die Leiter". Schon nach
wenigen Schritten packt mich zum einen die Ungeduld, zum anderen schießt mir der
Gedanke durch den Kopf, meine Form zu testen. Also folge ich mit
beschleunigtem Schritt Torsten, der bereits 20, 30 Meter voraus gestiegen ist.
Heute fühle ich mich stark genug für diese kleine "Extratour". Ich horche in
mich hinein, erspüre meinen Puls, der sich augenblicklich beschleunigt. Über das
Spiel mit dem Tempo stelle ich ihn auf eine Leistung ein, von der ich annehme,
sie bis oben durchhalten zu können.
Der Hang ist wirklich steil! Es gibt keine getrampelten
Pfade und so müssen natürliche Unebenheiten für Halt sorgen. Hin und wieder
bleibe ich stehen und suche die Gruppe mit Blicken. Um Ines mache ich mir keine
Sorgen. "Scout" Moises wird schon den besten Weg vorgeben und wir haben zusammen
in den Alpen schon gefährlichere Hänge gemeistert. Aber was ist mit den anderen?
Einige unter ihnen sind sicher nicht völlig trittsicher und verfügen auch über
eine vergleichsweise mäßige Ausdauer ...
Längst hat uns die Sonne
wieder. Ein paar
Wolkenreste hängen noch an der anderen Talseite über die wir vorhin abstiegen.
Mit jedem Schritt wird der Blick freier, weiter. Gegenüber beherrscht dunkel und
klotzig das Massiv des "Negruni" (5398m) die Szenerie. Seine Gletscher speisen die
"Laguna", an der wir nächtigten. Der erdige, steinige, mit
Grasbüscheln durchsetzte
Hang bleibt einheitlich steil. Vielleicht 50° - schwer zu schätzen. Ich wechsele
in ein ausgetrocknetes Bachbett, das den Hang in Falllinie zerteilt. Hier erlauben
frei gewaschene, große Steine einfacher und sicherer zu steigen. Hin und wieder
lassen herabhängende Eiszapfen die frostigen Nachttemperaturen erahnen. Und an
schattigen Stellen dürfte das Thermometer auch jetzt noch wenig über dem
Gefrierpunkt stehen. Der Hang fordert mich, treibt mir den Schweiß aus allen
Poren. Ich genieße die Anstrengung, auch die dabei frei werdende Wärme, treibe
mich auf dem letzten Drittel bewusst in einen kurzatmigen Zustand. Hätte ich
geahnt, wie "haarig" der Hang im Mittelteil ist, wäre ich bei Ines geblieben.
Hinter der Kante des Steilhangs finde ich Torsten, von der Sonne abgewandt, sich
selbst Schatten spendend. Er hat Angst vor einer Sonnenallergie, für die der
hellhäutige und rothaarige Mann anfällig ist. Ich hatte erwartet kurz unterhalb
des Passes zu stehen, stelle jetzt aber fest, dass wir ein flaches
Zwischenplateau erreicht haben. Zum eigentlichen Pass werden jenseits des
Plateaus noch einmal etwa 70 Höhenmeter zu bewältigen sein. Zwischen den Steinen
warten wir auf die anderen. Zeitweise verliere ich sie aus den Augen. Sie werden
an anderer Stelle das Plateau betreten. Ich gehe Ines entgegen und bin
erleichtert, dass sie den Hang gemeistert hat. Moises
diktiert nach dieser Gruppenleistung eine Rast. Wir tauschen uns über den
Aufstieg aus. Der schlimme Hang ängstigte Ines teilweise schon, ihre Erfahrung
ließ sie das aber unbeschadet überstehen.
Eine halbe Stunde gönnt uns Moises, dann nehmen
wir die paar Höhenmeter bis zum eigentlichen Sattel auch noch. Erstaunlicherweise ist es hier fast völlig windstill. Windstill und ungewöhnlich
warm. Dazu kommt die wunderbare Aussicht rückwärts zum "Negruni" und in die nahe
Zukunft zum "Hankolakaya" Pass. Ich kann die Namen dieser Höhen kaum aussprechen und sie mir einprägen zu wollen ist völlig aussichtslos. Aber
zumindest erwähnt sollen sie sein ...
Hier oben müssen wir ganz einfach unsere Mittagsrast einlegen! Etwas seitlich des Jochs, am Hang, sucht sich jeder eine halbwegs bequeme Sitz- oder gar Liegemöglichkeit. Jacken und Rucksäcke müssen als Unterlagen oder Kissen herhalten. Nach meiner "Windrosen-Fotosession" (= Fotos in alle Himmelsrichtungen) reiße ich mir erst mal die Kleider vom Leib. Zum Glück kann man auch die Beinteile der Trekkinghose wegzippen. Eine halbe Stunde sollte meine Haut die starke Sonne ohne Schaden aushalten können ... Unglaublich die Wärme auf 4800 Meter Seehöhe! Alle dösen vor sich hin, der ein oder die andere schläft sogar ein.
Schon im Abstieg erwischt uns eine leichte
Brise
und macht die herrliche Stunde Sonnenbad sogleich vergessen. Also legt sich die
"Zwiebel" nach und nach wieder ihre Schalen um. Eine Stunde wandern wir
gemächlich abwärts über eine mit Steinen und Felsen durchsetzte Wiese.
In den Alpen würde man das "Alm" nennen. Nun trennt uns noch eine letzte Steilstufe vom
Talgrund über den schon wieder erste Wolkenfetzen ziehen. Meine Kondition fühlt
sich heute "unkaputtbar" an und so macht es mir Spaß, mit Unterstützung der
Teleskopstöcke den Abhang in kürzester Zeit, halb springend, halb laufend, zu absolvieren. Auf halber Höhe verhaltend, erfreue ich mich an den
großartigen Mäandern, die
der Bergbach in die Talsohle zeichnet. Die Stelle, an der der Pfad in das
weitgehend ebene Hochtal einmündet, ist durch ein Gehöft markiert. Hinter dessen
Einfriedung aus Natursteinmauern kauern einige Indígenas,
offensichtlich
palavernd, am Boden und beobachten uns. Ein Junge kommt uns neugierig entgegen
und will anscheinend als "Fotomodell missbraucht" und mit Bonbons entlohnt
werden. Selbstverständlich tun wir ihm den Gefallen. Moises hält unterdessen ein
Schwätzchen mit dem Bauern. Ines und ich kramen noch eine Packung Saft und Kekse
aus dem Rucksack. Ich reiche die Leckereien den Leuten hinter der Mauer. Ihr
Lachen, ihre Freude über das - für uns - winzige Geschenk ist groß und
aufrichtig.
Auch
solche Erlebnisse machen eine Tour unvergesslich ...
Zwanzig Minuten talwärts brauchen wir noch bis zum malerisch gelegenen heutigen Zeltplatz. Unsere "Hausnummer" 10 ist von den übrigen gelben Pilzen durch einem schmalen Wasserlauf getrennt. Noch wärmt die Sonne. Also wiederholt sich für mich heute das Totalwasch-Ritual. Das kalte Wasser reinigt nicht nur, es regeneriert auch blitzartig die geschundenen Muskeln, Sehnen und Gelenke. Nach dem Einräumen des Zeltes ruft uns die geschlagene Pfanne zur Teatime ...