Nach einer guten Nacht und
angesichts eines erneut wolkenfreien Himmels
bin ich bester Stimmung, als wir kurz nach acht Uhr wieder losziehen. Die
grimmige Kälte dieses Morgens kann an meiner Laune keine "Kratzer" hinterlassen.
An manchen Stellen hat der Frost über Nacht die gestrige Nässe zu
blütenähnlichen Eisgebilden geformt.
Mehr als eine halbe Stunde sind meine Zehen kalt und gefühllos, bis die Bewegung genügend Eigenwärme erzeugt hat. 900 Höhenmeter trennen uns vom heutigen Pass. "Sarani"
heißt er. Aber - ist das wichtig? Nach einer Stunde ist die Schattengrenze in
Sicht.
Zuvor hält Moises die Gruppe jedoch noch zu einem "Lokaltermin" zurück.
Neben dem Bachbett sind mehrere, beinahe kreisförmige Löcher auszumachen. Sie
sind etwa einen Meter tief und haben einen ebensolchen Durchmesser. Die Anlage dient
der Konservierung von Kartoffeln durch Dehydrierung. Dazu füllen die Indígenas
Kartoffeln in das Loch und leiten das eiskalte Wasser des Baches für mehrere
Tage darüber, wodurch den Feldfrüchten selbst der Saft entzogen wird. Infolge
dieses Prozesses färben sie sich schwarz und sind mehrere Monate haltbar.
Zahlreiche Einheimische kommen uns entgegen. Moises unterstellt, dass sie nach "Cocooyo" zum Einkauf unterwegs sind oder dort eigene Produkte ausliefern. Ein älterer (? Altersschätzungen bei Erwachsenen sind schwierig) Mann spricht uns an und bittet um Medikamente. Mehr verstehen wir nicht und verweisen ihn an Moises. Nach kurzem Zwiegespräch geht er jedoch seiner Wege. Moises durfte ihm die benötigten Medikamente aus der vom Veranstalter mitgegebenen Apotheke nicht überlassen: "Wir brauchen sie für die Gruppe!" Natürlich ist es jetzt zu spät. Dennoch grübele ich noch eine Weile darüber nach, ob wir das Benötigte nicht aus unseren - wie sich später herausstellte - überaus gut sortierten, persönlichen Arzneipaketen hätten bereit stellen können ...
Mit wem redet Moises da? Schon bei der
Annäherung mache ich meine Kamera "schussbereit". Ein Indígena-Mädchen steht
beobachtend und wartend am Wegrand. Sie weiß, die Fremden werden nicht vorbeiziehen, ohne ihrer Begeisterung durch Gaben von "Caramellos", Schokolade oder
Früchten Ausdruck zu verleihen. Verlegen ist sie, schüchtern, auch ein bisschen
vorsichtig. Abgerissene, schmutzige Kleidung über tiefbrauner Haut, glänzende,
zu Zöpfen geflochtene, schwarze Haare, halbmondförmige, dunkle Augen, die Füße
stecken strumpflos in leichten Schuhen aus Plastik. Einige Bilder muss ich dafür schon
investieren von meinem 2-Gigabit-Vorrat. Wie? Zwei Gigabit ist endlos? Es sind
zwei Speicherchips und bei der eingestellten, kleinsten Auflösung ergibt das "nur" an die
1600 Bilder. Ja, ich sehe euer Kopfschütteln. Mir stehen also täglich ungefähr
80 Bilder zur Verfügung. Das ist viel, wenn man in herkömmlichen
Kleinbildfilm-Kategorien denkt. Andererseits gibt es hier auf jedem Meter Motive
und so gesehen sind 80 "Pics" herzlich wenig ...
Immerhin 11 Bilder widme ich dem
Mädchen. Hartmut und einige andere sind auch nicht "geizig" und lassen den
Verschluss ihrer Kamera arbeiten. Mehr Fotos werden
von Models in "Good Old Europe" auch nicht in so kurzer Zeit geschossen ... Dem
Mädchen wird's egal sein. Was ihr bleibt sind die Köstlichkeiten in ihren Händen.
Heute ist ein Supertag für meine Kamera. Kaum haben wir die Kleine hinter uns gelassen, quert eine Herde Lamas unseren Weg. Von weiß bis tiefbraun, fast schwarz, einfarbig und gefleckt sind alle Varianten vertreten. Ein herrlicher Anblick zwischen den Felsen und vor dem Azur des wolkenlosen Himmels.
In geringer Entfernung vom Weg sind nun immer
wieder bewohnte Katen, einfache, grasgedeckte Steinbehausungen, zu sehen. Moises
macht uns auf einen großen Felsen mit ebener und glatt gescheuerter Oberfläche
aufmerksam. Darauf liegen zwei, mehrere Kilo schwere, ihrerseits plan
geschliffene Steine. Es handelt sich um die Getreidemühle der Gegend. Hierher
kommen die Bewohner der Katen, um sich Mehl für die Küche herzustellen.
Ich streune ein wenig abseits
des Weges in Richtung der Hütten. Viel laufen, auch schneller laufen, macht mir
heute nichts aus.
Und dann läuft mir schon wieder so ein entzückender "Meter" vor die Linse.
Kleidung, Plastikschuhe und Haut starren vor Dreck, und doch ist sie hübsch. Das
dichte, dunkle Haar ist zu zwei kleinen Pferdeschwänzen gefasst. Ihr
Gesichtsausdruck verrät Nichtverstehen angesichts des Veitstanzes, den der Fremde
mit seiner Kamera vollführt. Mal steht er, mal kniet er, wechselt mal hierhin,
dann wieder dorthin ... Aber das Bonbon in ihrer Hand weiß sie ganz sicher zu
deuten. Ja, ja, ich weiß - man soll keine Süßigkeiten an Kinder verschenken! Das
greift den Zahnschmelz an und zahnärztliche Versorgung ist in dieser
Abgeschiedenheit und auf diesem Lebensniveau ganz sicher ausgeschlossen.
Andererseits kommen hier nicht viele Fremde vorbei. Ein paar Bonbons und das
bisschen Zucker anderer Süßigkeiten werden sicher keinen Schaden anrichten.
Gegen 13 Uhr ist der Pass erreicht. Seit
Stunden schon schieben sich Wolken aus dem Tal immer dichter heran, verfolgten
uns sozusagen. Wir setzen uns am Pass zur x-ten Pause und werden an dieser
Stelle von unserem "Lager auf Pferde- und Lamarücken" überholt. Jenseits des Passes
öffnet sich ein weites Tal, zu dessen Sohle wir ca. 400 Meter absteigen müssen.
Auf halber Höhe hüllen uns auch hier Wolken ein, die jedoch harmlos und
lückenhaft bleiben. Nach Überquerung des Bachs, im Gegenanstieg, gewinnt
die Sonne wieder Oberhand. Unser Weg streift ein Gehöft, mit für die Gegend
typischer "Wasserleitung": Von einem weiter oben gelegenen Zufluss zweigt ein
wenige Zentimeter schmaler Graben ab. Mit geringem Gefälle und an alle
Geländekonturen angepasst, führt er zu dem einsamen Bauernhaus. Der gut einen
Kilometer lange Kanal muss seinen Konstrukteur viel Schweiß gekostet haben. Das
Wasser kommt aus einer weiten Hochebene, durch die ein Bergbach seine netzartig
miteinander verknüpften Bette treibt. Kleine bis mittelgroße Grasinseln
entstehen dadurch. Zahlreiche Lamas grasen dort, und so weiche ich wieder einmal
von Moises' Kurs ab, der an der Bergflanke entlang im Trockenen verläuft. Wieder
gelingen einige tolle "Lamafotos".
Eine letzte Stufe, höchstens 30 Höhenmeter, trennt uns noch vom Lager. Dort angekommen,
vermögen wir unser Glück kaum zu fassen: Traumhaft schöne Lage neben einem
Bergbach, absolute Windstille, warmer Sonnenschein! Die Stimmung in der Gruppe,
wie auch bei Ines und mir, erreicht einen Höhepunkt. Ich will baden. Einige andere tun
es mir gleich. Jochen (I) und Heri sehe ich und von Torsten weiß ich es sicher.
Er braucht das Vollbad täglich. Moises bestimmt die Stelle, ab der flussabwärts
waschen erlaubt ist. Seife im Tee oder im Abendessen wäre nicht so der Hit ...
Eiskalt ist das Wasser, aber ungeheuer belebend. Ich tauche vollständig ein,
wasche sogar meine Haare. Ein Wagnis in dieser Höhe und bei der herrschenden
Lufttemperatur. Ich gehe es ein, vertraue auf mein Immunsystem, das mich bei
ähnlichen Wagnissen für gewöhnlich vor Schaden bewahrt. Matten und Schlafsäcke
kommen zum Lüften auf einen großen Felsen. Ines zieht sich zum Lesen ebenfalls auf einen
Felsen zurück. Die gemeinsame Teatime fällt heute der Sonne zum Opfer. Ich hole
Tassen mit Kaffee, für Ines Tee und ein paar Kräcker aus dem Esszelt. In der
Sonne schmeckt es noch mal so gut. Die Umgebung dieses Ortes, den die
Einheimischen "Chayolpaya Alto" (4300m) nennen,
ist einfach unbeschreiblich
schön. Ich kann mich nicht sattsehen. Etwa eine Stunde währt das vollkommene
Idyll, dann endet es abrupt. Die Sonne verschwindet hinter einem Bergrücken.
Sofort fehlt die Strahlungswärme und die Lufttemperatur sinkt zusätzlich rapide.
Rasch ist das Zelt eingeräumt und dann geht's ab ins Esszelt, um den Tag im
Bericht zu verewigen. Außerdem habe ich gewaltigen Durst, weil unsere Flaschen
heute etwa nur zur Hälfte gefüllt waren. Das Füllen übernimmt die Crew, während
wir beim Frühstück sitzen. Beim Abendessen zeigt sich im Gespräch, dass fast
alle davon betroffen waren. Moises nimmt die Beschwerden auf und - was soll
ich sagen? Es ist nie wieder vorgekommen.