Meine Sorge war ganz und gar unbegründet. Zwar schlafe ich nicht durch und bin auch mal gezwungen den Tee vom Abendessen zu entsorgen (Eine der unangenehmsten Prozeduren, weil man sich aus dem warmen Schlafsack pellen, in die kalte Nacht stellen und hinterher wieder einpacken muss). Das, wovor ich mich jedoch am meisten fürchtete, schon sehr früh mit bohrenden Kopfschmerzen wach zu liegen, bleibt aus. Ich will es an dieser Stelle vorweg nehmen und dann auch nicht mehr erwähnen: Die unangenehme Erfahrung von Nepal wiederholt sich nicht, wo ich praktisch an jedem Morgen mit gewaltigen Kopfschmerzen aufwachte, die sich nach Beginn des Marsches auflösten. Die "tiefergelegte" Nacht in Sorata, unter 3000 Meter, scheint Wunder gewirkt zu haben. Bis zum Ende der Reise bin ich nun praktisch kopfschmerzfrei ..."

Geweckt werden wir um sieben Uhr mit einem freundlichen "Good Morning" und einer Tasse "Coca Tea", in Blechtasse mit Teebeutel und heißem Wasser vor dem Zelt aufgegossen. Mich fröstelt es, und so probiere ich die gelbe "Brühe". Doch wie schon an den Vortagen finde ich das Zeug grässlich und überlasse Ines meine Tasse. Sie ist dankbar dafür, so hat sie gleich schon mal zwei Tassen Flüssigkeit. Vom Wecken bis zum Einrücken ins Esszelt vergehen etwa 25 Minuten, in denen die ganze Habe in den Seesäcken verstaut werden muss. Das Frühstück besteht aus Kaffee oder Tee (außer Coca noch zwei andere Teesorten), hellen, flachen, etwa untertassengroßen Brötchen bzw. Fladen, zwei schmackhaften Käsesorten, wechselnden Wurstsorten, eisenharter Butter (Kälte!), Marmelade, Honig mit der Konsistenz von Baumharz (Kälte!) und einer warmen, täglich wechselnden Zutat. Heute, wie künftig jeden zweiten Tag, den von Ines heiß geliebten und von mir leidenschaftlich gehassten Porridge. Da freut sie sich eben über zwei Portionen. Das Frühstück endet jeweils mit der Zusammenstellung des Lunchpaketes. Jeder bedient sich nach Belieben von den Brotfladen und belegt sie mit Käse und / oder Wurst. Dazu werden Äpfel, Orangen,  verschiedene Kekse, Erdnüsse und Karamellbonbons ausgegeben. Ein ziemlich voluminöses "Fresspaket" häuft sich da an.

Schon vor dem Frühstück saßen ein paar Kinder in der Nähe des Esszeltes. Also bringe ich erst mal einen Teil des süßen Vorrates nach draußen. Schmutzige Kinderhände strecken sich mir entgegen. Die dunkelbraunen Gesichter werden eine Nuance heller und von einem Lächeln überzogen. Besonders angetan hat es mir ein kleines Mädchen mit seinem schwarz-weißen Hündchen auf dem Schoß. Sie muss sich dann beim Aufbruch auch die mehrfache Belästigung durch meine Kamera gefallen lassen ...

Über Nacht ist die dichte Bewölkung verschwunden. Die tief stehende Morgensonne erzeugt zwei Welten: Die eine erstarrt in eiskalten Schatten, die andere lebt von warmen, satten Farben. Über Nacht wurde die Gruppe auch dezimiert: Daniel ist nicht mehr da! Er klagte in den letzten Tagen ständig über Verstopfung und Schmerzen im Unterleib. In der Nacht wurden die Beschwerden so massiv, dass er sich bei Moises meldete. Der stoppte einen zufällig auf der Piste vorbei kommenden Jeep, mit dem sich Daniel auf den Rückweg nach La Paz machte ...

Kaum 10 Minuten hinter dem Lager beginnt bereits der Anstieg zu unserem ersten Pass. 650 Höhenmeter bis in eine Höhe von fast 4500 Metern werden zu überwinden sein. Ich bin gespannt, ob mein Kreislauf für eine solche Leistung schon ausreichend angepasst ist. Bereits nach kurzer Zeit darf ich beruhigt registrieren, dass das eingeschlagene Tempo ohne Probleme zu halten ist. Ines geht es genauso. Vor die anfänglich gut einsehbaren Gipfel und Eisfelder des "Illampu" schiebt sich langsam eine Bergkuppe. Zwei Drittel des Aufstieges verlaufen unter wolkenlosem Himmel, jedoch im Schatten. Es ist empfindlich kalt. Auf halber Höhe zum Pass überholt uns eine leichtfüßige Indígena. Sie treibt zwei kleinwüchsige, schwarze Schweine vor sich her. Ihre Geschwindigkeit verdeutlicht, wie gut die Menschen hier an die Höhe angepasst sind. Weitere willkommene Abwechslung bringt eine grasende Gruppe kleiner Pferde mit ihren Fohlen. Die "tierischen Fototermine" veranlassen mich mehrmals zu schnelleren Passagen am Berg. Mein Puls beschleunigt sich dabei erwartungsgemäß. Zufrieden stelle ich aber fest, dass sich dabei keine Kurzatmigkeit einstellt. Der schon mehrfach beobachtete "Gänsemarsch" bildet sich auch heute wieder: Hinter Moises schließen Torsten, Michael und Hartmut dicht auf. Am Ende laufen meist Jochen (I), Heribert und Jochen (II). Die anderen dazwischen. Bisweilen zieht sich die Gruppe weit auseinander. Heri wurde über Nacht von einer Erkältung erwischt. Zur Erleichterung der müden Beine hat er seine Lasten abgegeben. Torsten trägt was, Heris Vater und ich haben eine Trinkflasche zusätzlich im Rucksack.

Es sind zwei und eine halbe Stunde vergangen, als sich die Gruppe unmittelbar hinter ihrem ersten bewältigten Pass im Windschatten sammelt. Moises verordnet wieder eine kleine Rast. Der Blick zurück in einen tiefblauen Himmel gefällt. Die Aussichten voraus sind weniger erquicklich. Uns "droht" ein Abstieg in unergründliche, vollständig wolkenverhangene Tiefen.

Zwanzig Minuten später sind wir mitten drin in der "Suppe". Nur die unmittelbare Umgebung ist erfassbar. Es geht mehr oder weniger steil und steinig hinab. Die Vegetation wird zunehmend dichter und artenreicher. Das kann ja nur bedeuten, dass es hier häufiger regnet als anderswo. Tolle Aussichten. Zum Glück haben die Wolken zu diesem Zeitpunkt noch eine Untergrenze. Zwar ist die Sicht nach oben  nach wie vor verwehrt. Immerhin ist das Ende des Abstiegs jetzt zu erkennen und umliegende Bergflanken geben wieder Anhaltswerte für Entfernungen. Der blockige Weg schlängelt sich zwischen Moosen, Farnen und Büschen talwärts. Eine Gruppe von Findlingen im Talgrund hat Moises als nächsten Rastplatz ausersehen. Das Wetter scheint sich zu bessern. Immerhin lugt hie und da ein Stück Himmel durch das helle Grau. Es gibt einen neuen Patienten. Frank bildet zwischen den Steinen ein unübersehbares "Häufchen Elend": Bauchkrämpfe und Durchfall vermiesen ihm in den nächsten Stunden das Bergerlebnis völlig ...

Weiter geht es im nunmehr völlig flachen Gelände des Hochtales von "Cocooyo". Mit jedem Schritt schwindet die Hoffnung auf besseres Wetter. Im Gegenteil, die Wolken verdichten sich und kommen tiefer. Zeitweise werden wir von Nebelschwaden eingehüllt, und die beginnen zu nässen. Vom Rastplatz ist es nicht mehr allzu weit ins Dorf "Cocooyo", vielleicht 45 Minuten. An der Brücke über den Bergbach bleiben wir stehen und werden in Minutenschnelle zur Attraktion der Dorfjugend. Moises verlässt in Begleitung von Holger die Gruppe für eine Weile. In diesem Dorf gibt es ein Telefon und sie wollen in der Agentur anfragen, ob etwas über den Verbleib von Daniel bekannt ist. Unterdessen grübele ich darüber nach, ob man die Feuchtigkeit von oben nun schon als "Regen" bezeichnen kann oder ob es sich noch um nässenden Nebel handelt!? Bevor ich zu einer Entscheidung in dieser höchst "kriegswichtigen" Frage finde, überholt uns der Koch mit seinen Gehilfen. Sie sind ungewöhnlich spät dran, weil sie nicht den holprigen Pfad über den Pass nehmen konnten und auf eine Umwegstrecke angewiesen waren. Moises und Holger kehren sichtlich besorgt und ohne Erkenntnisse zurück. Niemand in La Paz weiß etwas von Daniel. Weder ist er im Hotel angekommen, noch hat er sich bei der Agentur gemeldet. Natürlich sind seit dem Morgen nur wenige Stunden verstrichen und der Weg nach La Paz ist weit. Die Ungewissheit muss Holger dennoch sehr belasten ... Moises schickt uns mit dem letzten der Küchenhelfer mit. Er möchte weitere Erkundigungen per Telefon einholen.

Das heutige Lager befindet sich nur eine Viertelstunde oberhalb von "Cocooyo" auf einer Findlingswiese neben einem ungewöhnlich großen Felsen. Von diesem Brocken hat die Stelle ihren Namen: "Piedra Grande". Auf dem Weg dorthin haben wir in der Dorfjugend hartnäckige Begleitung. Die letzten Karamellbonbons ("Caramellos") wechseln den Besitzer. Kurz nach uns treffen die Treiber mit den Tragtieren ein. Für die nächsten zwanzig Minuten stehen 11 begossene Pudel untätig und ein bisschen überflüssig in der Landschaft herum, frieren und lassen sich ... ja was ... ich nenne es mal "weiter einnässen". Ohne uns klappt der Lageraufbau einfach schneller. Patient Frank hockt sich auf einen Stein. Er ist mit den Kräften ohne Zweifel am Ende. Die Truppe lädt in Windeseile ab und in erstaunlich kurzer Zeit wachsen die gelben Pilze aus der arg mit Lamakot gesprenkelten Wiese. Zelt Nr. 10 steht schon. Und so schnappen wir unsere Seesäcke, um nass, frierend und in aller Eile das Nötigste einzuräumen. Der Schlafsack bleibt noch eingepackt. Unglaublich, aber währenddessen bricht die Sonne schon wieder durch die Wolken. Bereits 15 Minuten später gibt es warmes Wasser zum Waschen und eine weitere Viertelstunde darauf die "Teatime". Nach dem Tee haben sich alle Wolken verzogen, die Rundumsicht ist wieder hergestellt. Zeltplatz und Tal liegen um diese Zeit im Schatten, die Temperatur beginnt zu sinken. Trotzdem hat Ines noch Lust auf einen Spaziergang bergwärts. Ich schreibe im Esszelt an meinen Aufzeichnungen. Später treffe ich sie unterhalb des Lagers. Gemeinsam beobachten wir die Lamas, die sich inzwischen in alle Richtungen grasend verstreut haben. Sogar ein Stück den Hang hinauf sind einige Tiere auszumachen. Morgen früh müssen sie von den Besitzern wieder mühsam zusammen getrieben werden.