Die Nacht war grimmig kalt, der wolkenlose Morgen ist es auch. Und es gab Ärger. Gegen vier Uhr früh standen unsere Zeltnachbarn, die beiden Brasilianer, auf, um sich für ihre Tagestour vorzubereiten. Bis zum Abmarsch veranstalteten sie einen derartig rücksichtlosen Lärm, dass ich mehrmals aufwachte. Birgit konnte wohl überhaupt nicht mehr einschlafen und schleuderte einige zornige Bemerkungen in Richtung der Raudis ...

Der "Cerro Negro" spiegelt sich in der Laguna. Die Weitwinkeleinstellung meines Objektivs lässt ihn gar nicht so hoch aussehen ...Wie kalt es heute tatsächlich ist, wird beim Fühstück deutlich. Die Brötchen sind knochenhart gefroren und können nur mit Mühe und Vorsicht "aufgesägt" werden. Das lästige Packen fällt heute aus. Wir bleiben eine weitere Nacht an diesem schönen Ort. Zum "Cerro Negro" brechen wir ohne Birgit und Jochen (II) auf, die sich lieber einen Regenerationstag in der Sonne gönnen. Über die Endmoräne des "Condoriri" geht es zunächst steil und anstrengend nach oben. Zu meiner Beruhigung fühle ich keinerlei Schwäche dabei. Auf einer ersten flacheren Terrasse legt Moises eine Pause ein. Ich bräuchte keine Pause, hätte auch an den meisten Tagen zuvor keine nötig gehabt. Aber sie sind und waren stets willkommen, denn die meist wunderschöne Aussicht lässt sich nur mit Muße genießen. So auch jetzt wieder. Ein in Farben verliebter, überirdischer Maler hat schon fleißig gepinselt: Azurblau für den klaren Himmel, dunkelblau für den See tief unter uns, gelb und braun für die grasigen Hänge und, wo der Schatten noch haftet, mattes Schwarz ...

Weiter geht's. Auf einem gut eingetretenen Pfad zunächst, dann über eine Wiese mit vertrocknetem, störrig steifem Gras. Jochen (II) hatte damit an den Vortagen seine liebe Not. Ein um's andere Mal stolperte er über vermeintlich weiche Grasbüschel ... Die Stufe vor dem Einstieg in das geröllige Kar ist gewonnen. Ein kleiner "Felsengarten" mit tonnenschweren Brocken hat sich hier gebildet. Noch einmal fordert uns Moises zum Verweilen auf. Das elend lange und abschnittsweise steile Kar sollen wir ausgeruht angreifen. Hier in der Sonne bekomme ich dann auch wieder ganz vorne in den Bergschuhen Gefühle. Heute dauerte es extrem lange, trotz anstrengenden Aufstieges, bis die Zehen warm wurden.Steingewordene Fürbitten an die Götter ...

Auf einem wie ein Tisch wirkenden Felsen haben vorüberziehende Bergsteiger und Indígenas Steinmännchen errichtet. Für die sowohl dem christlichen, als auch immer noch dem uralten Naturglauben anhängenden Indígenas bedeutet das Aufschichten der Steine eine Bitte an die Göttin der Natur. "Pachamama" (sprich: Patschamama) soll sie auf ihren weiten und gefährlichen Wegen beschützen. Als eine Art Verbeugung vor der Kultur der Indígenas - und schaden kann's ja nun wirklich nichts - erhöhe auch ich die Steinmänner um zwei, drei Steine.

Der Aufstieg durch das Kar gegen die Scharte ist weit weniger anstrengend als befürchtet. Das von unten griesig wirkende Geröll besteht zu meist aus scharfkantigen Brocken, die unter den Schuhen kaum nachgeben. Dann gehört sie uns, die Scharte. Wir stehen auf 5000 Meter Höhe. Wieder wandele ich traumhaft schöne Ausblicke in unvollkommene Fotos um: Richtung Südosten präsentiert sich mein Traumziel "Huayna Potosí". In Gegenrichtung erfasst der Blick die Gletscherflüsse des "Condoriri" und seines linken Flügels. Tief unter uns mündet das Eis in einen trüben, hellgrünen See...

Aus dem Gipfelaufbau des "Cerro Negro" kommt uns ein Solobergsteiger entgegen. Er stammt aus Wien, ist schon vier Wochen in der "Cordillera Real" unterwegs und hat die Nacht im Schlafsack auf dem Gipfel (!!!) verbracht. Unwillkürlich schaudert es mich. Ein schmaler, drahtiger, ungemein kräftiger Kerl steht uns da gegenüber. Der 20-kg-Rucksack auf seinem Rücken wirkt fast so groß, wie er selbst. Als er seine Gipfelsiege der letzten Tage aufzählt, fällt mein Blick auf die beiden Eisäxte und die Steigeisen am Rucksack. Auch auf dem Condoriri-Gletscher hat er nach dessen Besteigung übernachtet. Er beeindruckt mich. Gewaltig. Ich kenne seinen Namen nicht, werde ihn wohl auch nie erfahren. Sicher zählt er weltweit zur erweiterten Spitzengruppe der Höhenbergsteiger. Für Ines hat er "etwas von einem Außerirdischen". Noch weitere sechs bis acht Wochen will er in diesen Bergen bleiben und die Zahl seiner Begehungen vermehren ...

Nur noch ein paar Meter - Ines kurz unter dem Gipfel des "Cerro Negro".Der stolze "Cerro Negro" ist im wesentlichen ein - Schutthaufen. Durch eine harmlose Flanke geht es dem Gipfel entgegen. Diese letzten 250 Höhenmeter nutze ich für einen neuerlichen Konditionstest. In forschem Tempo, heftig atmend, eile ich voraus und stehe nach einer halben Stunde um 11 Uhr am Gipfel (5250m). Jeder Versuch diesen Rundblick zu beschreiben wäre ein hoffnungsloses Unterfangen. Einzigartig, atemberaubend, überirdisch und doch auf Erden!. Die Speicherkarte meiner Kamera füllt sich ein Gutstück mehr: Nach Westen der unbehinderte Blick über das Altiplano mit dem Titicacasee bis zur chilenischen Grenze. Von dort Gipfelglück zu zweit ...Der Condoririgrüßt die winzig wirkende Pyramide des Sajama (6542m) herüber. In nördlicher Richtung glänzt die Vollversammlung der Eisgipfel der Cordillera Real. Im Osten, durch einen Einschnitt in der Condoriri-Gruppe, greift mein Blick nach dem Wolkenmeer über den "Yungas" und dem Regenwald. Nach und nach treffen die anderen Bergsteiger ein. Ines ist bei den Ersten. Gewohnte Rituale: "Berg Heil" und Gipfelfotos. Ein Gipfelkreuz gibt es nicht, so etwas ist hier unbekannt. Dafür beherrscht ein kapitaler ... und in der Gruppe.Steinmann den höchsten Punkt. 75 Minuten des Rastens, der Aussicht und der Besinnung gönnt uns Moises hier oben.

Zur allseitigen Überraschung zaubert Guillermo eine Flasche Wein aus seinem Gepäck, nebst kleinen Plastikbechern. Zum Wohl! Zwei Füllungen des winzigen Bechers bekomme ich von der Flasche ab. Höchstens 0,1 Liter. Hier oben reicht das, um mir in wenigen Minuten die Sinne zu benebeln.Qualmschwaden von Rodungsfeuern aus dem Tiefland ziehen vorbei. Ich nehme mir vor, beim Abstieg entsprechend vorsichtig zu sein.

Als ich jedoch Guillermo und Torsten abseits des Weges im Schutt auf alpine Art - kräftesparend - abfahren sehe, ist dieser Vorsatz schon wieder vergessen. Es dauert keine 10 Minuten, dann hab ich den Schutthaufen hinter mir. Erst in der bekannten Scharte sammelt sich die Gruppe wieder. Zu diesem Zeitpunkt fällt mir eine merkwürdige "Wolke" auf, die von Osten her in Richtung "Potosí" zieht. Meinen ersten und laut vorgebrachten Gedanken an eine Staubwolke als Folge einer Sprengung verneint Moises. Er ist sich sicher, dass da eine gewaltige Qualmwolke den Himmel verdreckt, die durch Brandrodung im Regenwald entstanden ist. Unvorstellbar, wie viele Hektar Urwald da in Flammen aufgegangen sein müssen ...

Jochen (II) testet die Steinschleuder.Um 14 Uhr sind wir zurück im Lager. Birgit und Jochen (II) begutachten gerade die Auslage einer fliegenden Händlerin. Sie bietet allerlei bunte Mitbringsel aus Wolle feil: Taschen, Tücher, usw. Sogar eine Steinschleuder ist im Angebot, die Jochen (II) unter allgemeinem Gelächter gleich ausprobiert. Frisch gewaschen geht's zur Teatime. Heute schon vor fünfzehn Uhr und außerdem hatte die Kochtruppe Zeit, eine leckere, heiße Suppe zuzubereiten. Allgemeines Erschrecken: Unter lautem Getöse bricht der Campingtisch zusammen. Zum Glück war die Suppe schon gegessen.