Viele Seitenstraßen
sind nicht einmal
asphaltiert. Schon nach wenigen Minuten Fahrt haben wir die letzten Häuser
des ständig weiter ins Altiplano hinein wuchernden Molochs El Alto hinter uns.
Im Westen streift der Blick nun weit über flaches, völlig trockenes Gras und
braches Ackerland. Hügelketten am Horizont säumen die Ebene. Ein paar Kilometer
gen Osten erheben
sich abrupt die Gipfel der mächtigen Cordillera Real aus der Ebene. Menschliche Ansiedlungen
beschränken sich auf kleine Dörfer und einsame Bauernhöfe. Nach einer
Dreiviertelstunde kämpft sich der Bus in langsamer Fahrt
einen Hügel hinauf. Am Aussichtspunkt "Lloco Lloco" steigen
wir aus und fangen wunderbare Impressionen des Altiplano und der Cordillera ein.
Von hier oben ist auch zum ersten Mal ein Stück des Titicacasees als silberner
Streifen in der Ferne zu erspähen. Wir steigen wieder ein: Unglaublich welche
Qualmwolken der Auspuff unseres Busses ausstößt! Zweifel kommen auf, ob diese
Kiste die komplette Unternehmung durchstehen wird!?
Von hier sind es noch 20 Busminuten bis nach Tiahuanaco. Nachdem wir im gleichnamigen Ort die Ausgrabungsstätte erreicht haben, ist für das ortsunkundige Auge zunächst nur das aus Natursteinen errichtete Museumsgebäude wahrnehmbar. Moises entrichtet für uns die fälligen Eintrittsgelder. Von einem großen, quadratischen und architektonisch interessanten Innenhof gelangt man türlos in zwei angrenzende Ausstellungssäle. Die fensterlosen Säle sind dunkel und ... kalt. Die nur im warmen Sonnenlicht angenehme Außentemperatur von vielleicht 10 Grad lässt mich hier drinnen frösteln. Im ersten Saal steht eine mehrere Meter hohe Stele. Um weitere Verwitterung zu vermeiden (und natürlich ein paar Dollars zusätzlich ein zu nehmen) wurde sie hier aufgestellt. Es handelt sich um eine Darstellung der Gottheit "Pachamama" (Mutter Erde), die die meisten Indígenas auch heute noch parallel zu ihrem christlichen Glauben verehren und um Hilfe bitten. Scheinwerferlicht von schräg unten lässt Strukturen und Ornamente der Stelenoberfläche effektvoll hervor treten. Mit detailreichen Schilderungen versteht es Moises Flores einen Einblick in die untergegangene Kultur von Tiahuanaco zu geben. Dennoch bin ich froh als wir wieder in die Sonne des Innenhofes und vor dem Museum treten. Meine Hände sind eiskalt und die Nase läuft ...
Bolivien, Peru und den Titicacasee bringen die
meisten von uns geschichtlich nur mit den Inkas in Zusammenhang
. Moises klärt
uns wortreich darüber auf, dass die Kultur von Tiahuanaco über 2700 (!) Jahre
bestand hatte. Ihre Anfänge sind nachweisbar ab 1500 vor Christus. Sie endet um
1200 nach Christus und wird - aus ungeklärten Gründen - innerhalb weniger Jahre
durch eine Übergangsphase mehrerer anderer Kulturen abgelöst. Erst zu dieser
Zeit entsteht die Inkakultur. Mit vielen Eroberungen werden die Inka - unter
anderem - zu den Herren von Titicacasee und Altiplano, bis die Spanier im 15.
Jahrhundert Einzug halten und innerhalb weniger Dekaden die Regentschaft der
Inka gewaltsam beenden. Auf ihrer von der Gier nach Gold getriebenen Suche nach
Schätzen, ziehen sie neben einer Blutspur auch eine Schneise der Verwüstung antiker
Stätten durch das Land.

Das Freigelände von Tiahuanaco setzt sich aus
mehreren Tempelanlagen zusammen. Unter einem riesigen, flachen, mit Erdreich
bedeckten Hügel verbirgt sich ein Stufentempel, dessen Bedeutung weitestgehend unbekannt ist. Wir treffen auf verschiedene mit Ausgrabungen beschäftigte Teams,
die hinter Absperrungen ihrer spannenden Arbeit nachgehen. Der größte Teil
dieser historischen Stätte ist noch immer nicht erschlossen. Systematische
Ausgrabungen gibt es erst seit den sechziger Jahren dieses Jahrhunderts. Vom
Hügel des Stufentempels aus lassen sich die am besten rekonstruierten Tempel, der
"Templete Semisubterráneo" und der "Templete Kalasasaya" sehr gut überblicken. Wie
der Name sagt, liegt ersterer mit seiner Bodenfläche unter dem
Niveau der
Umgebung. Ein raffiniertes, uraltes Entwässerungssystem sorgt dafür, dass er bei
Regen nicht voll läuft. In seinem Zentrum stehen drei monolithische Säulen. In
die
Innenwände sind aus Stein gehauene Kopfskulpturen eingelassen. Dieser "tiefer
gelegte" Kultort korrespondiert mit dem unmittelbar daneben gelegenen Tempel:
Visiert man über die Mitte der Außenwand hinüber durch das Osttor des "Kalasasaya",
blickt man auf die übermannshohe Stele des "Ponce". Archäologen konnten die
exakt an Gegebenheiten der Gestirne orientierte Ausrichtung beider Tempelanlagen
entschlüsseln. Betritt man das weitgehend leere Areal des "Kalasasaya", fallen
neben dem erwähnten "Ponce" zwei weitere Monolithen ins Auge. Zum einen die
Stele "El Fraile" ("Der Mönch") und vor allem eines der wohl berühmtesten geschichtlichen Monumente
Südamerikas, die "Puerta del Sol", das "Sonnentor". Etwa 10 Tonnen schwer, aus
einem Block gehauen, ist das Steintor auf der Ostseite im oberen Teil mit einer Gottheit und mehreren Reihen kondormaskenköpfiger Figuren verziert.