Von hier sind es noch 20 Busminuten bis nach Tiahuanaco. Nachdem wir im gleichnamigen Ort die Ausgrabungsstätte erreicht haben, ist für das ortsunkundige Auge zunächst nur das aus Natursteinen errichtete Museumsgebäude wahrnehmbar. Moises entrichtet für uns die fälligen Eintrittsgelder. Von einem großen, quadratischen und architektonisch interessanten Innenhof gelangt man türlos in zwei angrenzende Ausstellungssäle. Die fensterlosen Säle sind dunkel und ... kalt. Die nur im warmen Sonnenlicht angenehme Außentemperatur von vielleicht 10 Grad lässt mich hier drinnen frösteln. Im ersten Saal steht eine mehrere Meter hohe Stele. Um weitere Verwitterung zu vermeiden (und natürlich ein paar Dollars zusätzlich ein zu nehmen) wurde sie hier aufgestellt. Es handelt sich um eine Darstellung der Gottheit "Pachamama" (Mutter Erde), die die meisten Indígenas auch heute noch parallel zu ihrem christlichen Glauben verehren und um Hilfe bitten. Scheinwerferlicht von schräg unten lässt Strukturen und Ornamente der Stelenoberfläche effektvoll hervor treten. Mit detailreichen Schilderungen versteht es Moises Flores einen Einblick in die untergegangene Kultur von Tiahuanaco zu geben. Dennoch bin ich froh als wir wieder in die Sonne des Innenhofes und vor dem Museum treten. Meine Hände sind eiskalt und die Nase läuft ...
Bolivien, Peru und den Titicacasee bringen die meisten von uns geschichtlich nur mit den Inkas in Zusammenhang. Moises klärt uns wortreich darüber auf, dass die Kultur von Tiahuanaco über 2700 (!) Jahre bestand hatte. Ihre Anfänge sind nachweisbar ab 1500 vor Christus. Sie endet um 1200 nach Christus und wird - aus ungeklärten Gründen - innerhalb weniger Jahre durch eine Übergangsphase mehrerer anderer Kulturen abgelöst. Erst zu dieser Zeit entsteht die Inkakultur. Mit vielen Eroberungen werden die Inka - unter anderem - zu den Herren von Titicacasee und Altiplano, bis die Spanier im 15. Jahrhundert Einzug halten und innerhalb weniger Dekaden die Regentschaft der Inka gewaltsam beenden. Auf ihrer von der Gier nach Gold getriebenen Suche nach Schätzen, ziehen sie neben einer Blutspur auch eine Schneise der Verwüstung antiker Stätten durch das Land.
Das Freigelände von Tiahuanaco setzt sich aus mehreren Tempelanlagen zusammen. Unter einem riesigen, flachen, mit Erdreich bedeckten Hügel verbirgt sich ein Stufentempel, dessen Bedeutung weitestgehend unbekannt ist. Wir treffen auf verschiedene mit Ausgrabungen beschäftigte Teams, die hinter Absperrungen ihrer spannenden Arbeit nachgehen. Der größte Teil dieser historischen Stätte ist noch immer nicht erschlossen. Systematische Ausgrabungen gibt es erst seit den sechziger Jahren dieses Jahrhunderts. Vom Hügel des Stufentempels aus lassen sich die am besten rekonstruierten Tempel, der "Templete Semisubterráneo" und der "Templete Kalasasaya" sehr gut überblicken. Wie der Name sagt, liegt ersterer mit seiner Bodenfläche unter dem Niveau der Umgebung. Ein raffiniertes, uraltes Entwässerungssystem sorgt dafür, dass er bei Regen nicht voll läuft. In seinem Zentrum stehen drei monolithische Säulen. In die Innenwände sind aus Stein gehauene Kopfskulpturen eingelassen. Dieser "tiefer gelegte" Kultort korrespondiert mit dem unmittelbar daneben gelegenen Tempel: Visiert man über die Mitte der Außenwand hinüber durch das Osttor des "Kalasasaya", blickt man auf die übermannshohe Stele des "Ponce". Archäologen konnten die exakt an Gegebenheiten der Gestirne orientierte Ausrichtung beider Tempelanlagen entschlüsseln. Betritt man das weitgehend leere Areal des "Kalasasaya", fallen neben dem erwähnten "Ponce" zwei weitere Monolithen ins Auge. Zum einen die Stele "El Fraile" ("Der Mönch") und vor allem eines der wohl berühmtesten geschichtlichen Monumente Südamerikas, die "Puerta del Sol", das "Sonnentor". Etwa 10 Tonnen schwer, aus einem Block gehauen, ist das Steintor auf der Ostseite im oberen Teil mit einer Gottheit und mehreren Reihen kondormaskenköpfiger Figuren verziert.