Am Morgen des Aufbruchs nach Tiahuanaco (auch Tiwanako geschrieben und gesprochen) und dem Titicacasee geht es mir besser. Zwar schlief ich wieder nur bis vier Uhr früh durch, doch der Hunger beim Frühstück ist wieder da und Kopfschmerzen habe ich auch fast keine. Um halb acht sammelt sich die Gruppe in der Hotelhalle, um das Gepäck aufzuteilen. Eisausrüstung und alles Entbehrliche bleiben im Hotel. Die 80 Dollars für die Bergbesteigung und die Flughafengebühr sind gleichfalls jetzt zu bezahlen. Die Seesäcke türmen sich derweil schon auf dem Busdach, kunstvoll verschnürt und mit einer Plane leidlich gegen Staub geschützt. Aufwärts, über die schon bekannte, gebührenpflichtige Hauptstraße, kriecht der Bus nach El Alto. Die Stadt mit ihren derzeit ca. 650.000 Einwohnern ist erst 30 Jahre alt und dementsprechend trist und hässlich. Blick vom Aussichtspunkt "Lloco Lloco" über das Altiplano zu den Eisgipfeln der "Cordillera Real".Viele Seitenstraßen sind nicht einmal asphaltiert. Schon nach wenigen Minuten Fahrt haben wir die letzten Häuser des ständig weiter ins Altiplano hinein wuchernden Molochs El Alto hinter uns. Im Westen streift der Blick nun weit über flaches, völlig trockenes Gras und braches Ackerland. Hügelketten am Horizont säumen die Ebene. Ein paar Kilometer gen Osten erheben sich abrupt die Gipfel der mächtigen Cordillera Real aus der Ebene. Menschliche Ansiedlungen beschränken sich auf kleine Dörfer und einsame Bauernhöfe. Nach einer Dreiviertelstunde kämpft sich der Bus in langsamer Fahrt einen Hügel hinauf. Am Aussichtspunkt "Lloco Lloco" steigen wir aus und fangen wunderbare Impressionen des Altiplano und der Cordillera ein. Im Museum von Tiahuanaco: Die eigenwillige Architektur spielt mit Licht und Schatten ...Von hier oben ist auch zum ersten Mal ein Stück des Titicacasees als silberner Streifen in der Ferne zu erspähen. Wir steigen wieder ein: Unglaublich welche Qualmwolken der Auspuff unseres Busses ausstößt! Zweifel kommen auf, ob diese Kiste die komplette Unternehmung durchstehen wird!?

Von hier sind es noch 20 Busminuten bis nach Tiahuanaco. Nachdem wir im gleichnamigen Ort die Ausgrabungsstätte erreicht haben, ist für das ortsunkundige Auge zunächst nur das aus Natursteinen errichtete Museumsgebäude wahrnehmbar. Moises entrichtet für uns die fälligen Eintrittsgelder. Von einem großen, quadratischen und architektonisch interessanten Innenhof gelangt man türlos in zwei angrenzende Ausstellungssäle. Die fensterlosen Säle sind dunkel und ... kalt. Die nur im warmen Sonnenlicht angenehme Außentemperatur von vielleicht 10 Grad lässt mich hier drinnen frösteln. Im ersten Saal steht eine mehrere Meter hohe Stele. Um weitere Verwitterung zu vermeiden (und natürlich ein paar Dollars zusätzlich ein zu nehmen) wurde sie hier aufgestellt. Es handelt sich um eine Darstellung der Gottheit "Pachamama" (Mutter Erde), die die meisten Indígenas auch heute noch parallel zu ihrem christlichen Glauben verehren und um Hilfe bitten. Scheinwerferlicht von schräg unten lässt Strukturen und Ornamente der Stelenoberfläche effektvoll hervor treten. Mit detailreichen Schilderungen versteht es Moises Flores  einen Einblick in die untergegangene Kultur von Tiahuanaco zu geben. Dennoch bin ich froh als wir wieder in die Sonne des Innenhofes und vor dem Museum treten. Meine Hände sind eiskalt und die Nase läuft ...

Bolivien, Peru und den Titicacasee bringen die meisten von uns geschichtlich nur mit den Inkas in ZusammenhangDer "Templete Kalasasaya" mit dem Sonnentor.. Moises klärt uns wortreich darüber auf, dass die Kultur von Tiahuanaco über 2700 (!) Jahre bestand hatte. Ihre Anfänge sind nachweisbar ab 1500 vor Christus. Sie endet um 1200 nach Christus und wird - aus ungeklärten Gründen - innerhalb weniger Jahre durch eine Übergangsphase mehrerer anderer Kulturen abgelöst. Erst zu dieser Zeit entsteht die Inkakultur. Mit vielen Eroberungen werden die Inka - unter anderem - zu den Herren von Titicacasee und Altiplano, bis die Spanier im 15. Jahrhundert Einzug halten und innerhalb weniger Dekaden die Regentschaft der Inka gewaltsam beenden. Auf ihrer von der Gier nach Gold getriebenen Suche nach Schätzen, ziehen sie neben einer Blutspur auch eine Schneise der Verwüstung antiker Stätten durch das Land. Blick über den tieferliegenden "Templete Semisubterráneo" durch ein Tor des "Kalasasaya" zur Stele des "Ponce".

Das Freigelände von Tiahuanaco setzt sich aus mehreren Tempelanlagen zusammen. Unter einem riesigen, flachen, mit Erdreich bedeckten Hügel verbirgt sich ein Stufentempel, dessen Bedeutung weitestgehend unbekannt ist. Wir treffen auf verschiedene mit Ausgrabungen beschäftigte Teams, die hinter Absperrungen ihrer spannenden Arbeit nachgehen. Der größte Teil dieser historischen Stätte ist noch immer nicht erschlossen. Systematische Ausgrabungen gibt es erst seit den sechziger Jahren dieses Jahrhunderts. Vom Hügel des Stufentempels aus lassen sich die am besten rekonstruierten Tempel, der "Templete Semisubterráneo" und der "Templete Kalasasaya" sehr gut überblicken. Wie der Name sagt, liegt ersterer mit seiner Bodenfläche unter dem Eine archäoloigsche Berühmtheit: Das Sonnentor.Niveau der Umgebung. Ein raffiniertes, uraltes Entwässerungssystem sorgt dafür, dass er bei Regen nicht voll läuft. In seinem Zentrum stehen drei monolithische Säulen. In die Innenwände sind aus Stein gehauene Kopfskulpturen eingelassen. Dieser "tiefer gelegte" Kultort korrespondiert mit dem unmittelbar daneben gelegenen Tempel: Visiert man über die Mitte der Außenwand hinüber durch das Osttor des "Kalasasaya", blickt man auf die übermannshohe Stele des "Ponce". Archäologen konnten die exakt an Gegebenheiten der Gestirne orientierte Ausrichtung beider Tempelanlagen entschlüsseln. Betritt man das weitgehend leere Areal des "Kalasasaya", fallen neben dem erwähnten "Ponce" zwei weitere Monolithen ins Auge. Zum einen die Stele "El Fraile" ("Der Mönch") und vor allem eines der wohl berühmtesten geschichtlichen Monumente Südamerikas, die "Puerta del Sol", das "Sonnentor". Etwa 10 Tonnen schwer, aus einem Block gehauen, ist das Steintor auf der Ostseite im oberen Teil mit einer Gottheit und mehreren Reihen kondormaskenköpfiger Figuren verziert.