Diese Nacht (wieder bohrende Kopfschmerzen) war kürzer als die vorherigen. Wir müssen lange vor Sonnenaufgang aufstehen, weil heute die weite Fahrt nach Sorata, dem letzten Ort vor dem Trekking, ansteht. Der Himmel ist mit feinen, der Linie von Cordillera und Horizont folgenden Pastellstrichen gestreift. "Isla de la Luna" und See liegen noch farblos und ruhig in der Morgendämmerung. Unterhalb der Lodge entwickeln einige Frauen beim Beladen ihrer Esel mit unserem Gepäck lautstarke Betriebsamkeit. Wir lassen uns davon nur zu einigen Fotos verleiten und beginnen mit der einstündigen Wanderung und dem Abstieg zur Bucht des Inka, wo der schon bewährte Fährmann auf uns warten wird. Lange sind wir noch nicht unterwegs, als die Sonne über der Cordillera aufgeht und mit ihrem warmen Licht die Sonneninsel zum abertausendsten Male tauft. Ihre flach einfallenden Strahlen arbeiten auch das Profil der Ökolodge mit ihren Schlafhütten deutlich aus dem terrassierten Hang hinter uns hervor. Einige Inselbewohner kommen uns zu dieser frühen Stunde entgegen. Von weitem schon erkenne ich eine alte Frau mit einem überdimensionalen Reisigbündel auf dem Rücken. Nach einer halben Stunde geht es über eine Treppe steil nach unten. Wir haben die "Escalera del Inca" erreicht. Sie führt durch einen dicht bewachsenen und mit alten Bäumen bestandenen Geländeeinschnitt zur wichtigsten Bootsanlegestelle der Insel hinunter. Etliche Stufen und einige Kehren später stehen wir vor einem mit alten Mauern eingefassten Brunnen. Das erklärt die aus schweren Plastikkanistern bestehende Last von Maultieren und Eseln, die uns mehrfach begegneten. Auch heute noch stellt dieser Inkabrunnen ("Fuente del Inca") eine der wichtigsten Wasserstellen der Insel dar. Vom "Fuente del Inca" führt die Treppe in gerader Linie zum Ufer hinunter. Und natürlich wartet unser Boot bereits. Gerade werden die letzten Seesäcke verladen. Die Karawane mit den Tragtieren muss uns auf einem anderen Pfad überholt haben.

Vorsorglich entleere ich mich noch einmal, immerhin dauert die Fahrt nach Copacabana eine ganze Stunde. Dann geht es an Bord und mit Ines gleich auf das "Sonnendeck" hinauf. Jochen (I) und Heri haben sich dort schon vor uns einen Platz gesucht. Der Fahrtwind ist kalt an diesem Morgen. Und doch gibt es keinen schöneren Platz als hier im strahlenden Licht der Morgensonne. Stetig pflügt das Boot durch den kaum bewegten See. Zunächst hält der Fährmann auf die Spitze der Halbinsel zu, nachdem sie passiert ist auf den Kalvarienberg über Copacabana. Nach einer Stunde drosselt er die Motoren und kurvt um die zahlreichen Boote im Hafen von Copacabana zum Anlegesteg.

Für eine weitere Stunde vermag das hübsche bunte Städtchen zu begeistern. Um diese Zeit sind sehr viele Leute auf der Straße, um ihren Geschäften nachzugehen. Mich zieht die Markthalle magisch an. In den Auslagen der Metzgerstände türmen sich Fleischteile zu Bergen. 'Wenig hygienisch das Ganze' ist mein ständiger Gedanke. Da wird eine hängende Fleischsaite auch mal ungeniert zur Probe angefasst ... Im mittleren und hinteren Teil der runden Halle sind die Gemüse- und Obsthändlerinnen untergebracht. Von allem reichlich und sicher mit ausgezeichneter Qualität. Verstohlen schieße ich meine fotografischen "Pfeile" ab und verziehe mich wieder nach draußen. Auch vor dem Markt biegen sich einige Stände unter dem reichhaltigen Angebot. Vor allem große, weiße Haufen von Popcorn fallen ins Auge.

Der Bus erwartet uns vor der Wallfahrtskirche. Zunächst gilt es wieder "Tiquina" zu erreichen und die Enge zwischen Kleinem und großem Titicacasee zum zweiten Mal zu überqueren. Ein paar Kilometer außerhalb, am Hang oberhalb "Copacabana", hält der Bus noch einmal. Von hier lassen sich Stadt und Bucht sehr gut überblicken. Bei der Herfahrt im Dunkeln blieb uns dieser tolle Anblick versagt.

Dicht an der bolivianisch-peruanischen Grenze verläuft die Straße nach "Tiquina". Sattsehen an diesem See, seinen braungelben Ufern und dem azurblauen, heute schäfchenbewölkten Himmel darüber ist nicht möglich. Mal wird der Blick nach Westen über den Kleinen, dann wieder in Richtung Osten über den Großen Titicacasee frei. Unglaublich schön!

 In "Tiquina" kaufe ich eine Tüte Popcorn für den kleinen Hunger zwischendurch. Kurz vor dem Bootstaxi am Steg erwischt uns die bolivianische "Schleierfahndung" in Person eines Ausweis kontrollierenden Polizisten. So was käme im Grenzgebiet nach Peru wohl häufiger vor erklärt Moises. Macht zwar absolut keinen Sinn, eine begleitete, zigfach registrierte, offensichtliche Touristengruppe zu visitieren, aber es ist eben sein Job ... Bus und Insassen schippern neuerlich getrennt über das inzwischen bewegte Wasser des Kanals. Der Fährmann hat einige Mühe, um den reichlich ramponiert und altersschwach wirkenden Außenborder in Gang zu bekommen. Die Kajüte dieser schwankenden "Nussschale" ist bis auf den letzten Platz von der Gruppe gefüllt. Mir bleibt nur ein Platz an Steuerbord im Freien. Gegenüber haben sich zwei Indígena-Frauen nieder gelassen. Die Gischt spritzt ein um's andere Mal über ihre Schulterumhänge, was sie allerdings nur mit wiederholtem Lachen quittieren. Von "Tiquina" nach "Tiquina" vergehen nur Minuten. Während wir auf den Bus warten, lockt ein Stand mit kunstvoll aus Binsen geflochtenen Lamaskulpturen und Bootsnachbildungen. Ein, zwei kleinere "Tiere" wechseln gegen Bolivianos den Besitzer. Die halb- bis dreiviertelmannshohen Exemplare bleiben zurück.

Schon wenige Kilometer hinter "Tiquina", ungefähr bei "Huatajata", wechselt der Bus unvermittelt von der geteerten auf eine unbefestigte Piste. Fast die komplette dreistündige Distanz bis "Sorata" werden wir nun auf staubigen, holprigen Pisten dahinrumpeln. Der Bus hält auf einer Hügelkuppe wo ein freier Blick auf die "Cordillera Real" geboten wird. Gelegenheit für Fotos und Besuche in den umliegenden Gebüschen. Von hier ist das nur von flachen Hügeln durchzogene, trockene Gebiet bis zur Cordillera vollständig überschaubar.

In einer trostlos wirkenden Kleinstadt keimt zwanzig Minuten später Hoffnung auf: Endlich wieder asphaltierte Straße? Wir halten jedoch nur kurz zum Tanken und biegen dann auf die nächste, weiter bergwärts führende Piste ab. Sanft aber stetig geht es bergauf. Immer wieder Gehöfte, Felder, Tiere und Menschen. Kühe brachte ich bisher immer mit grünen, saftigen Wiesen in Verbindung, doch offenbar ernährt die spärliche, total verdorrte Grasnarbe das Vieh ausreichend.

Inzwischen hat die Piste den höchsten Punkt am Rand des Altiplano erreicht. Die Cordillera mit den 6000ern "Illampu" und "Janq'uma" liegt nun klotzig, hoch aufragend vor uns. Vor ihr schneiden zahlreiche Schluchten tief in die Landschaft. Ein Mirador "zwingt" zum Halten und Fotografieren. In wirklich flottem Tempo geht es auf der schwindelerregenden Piste weiter. Immer tiefer hinunter in eines der Täler windet sich die Straße. Mehrere Baustellen sind zu passieren, an denen die Trasse mit schwersten Baumaschinen verbreitert und befestigt wird. Ein um's andere Mal erfasst mich ein mulmiges Gefühl bei Tiefblicken in gähnende Abgründe. Reine Nervensache ... Immer wieder zeigen sich "Illampu" und "Janq'uma": Die Sonne ist nun oft hinter Wolken verschwunden und so wirken die düsteren, steilen Flanken der Eisriesen abweisend und bedrohlich. Fast scheint es, als wolle die Holperfahrt kein Ende nehmen. Wir haben die Stadt schon eine halbe Stunde im Blickfeld, während sich der Bus noch durch unzählige Serpentinen in das Tal von Sorata hinunterkämpft. Hier - unterhalb der 3000m-Marke - ist auch die Sonne zurückgekehrt und brennt nun heftig durch die Scheiben des Busses.

Alle sind froh, als der Bus endlich in die Hofeinfahrt des "Gran Hotels" einbiegt. Sehr schnell merken wir, dass dieses Hotel seine beste Zeit lange hinter sich hat. Haus und Garten wirken verwahrlost. Nur mühsam sind die Besitzer offensichtlich in der Lage die wichtigsten Einrichtungen funktionsfähig zu halten. Immerhin ist unser Zimmer groß, das Bett sauber und die Dusche gibt warmes Wasser ab (was aber wohl nicht bei allen so war). Überlebt haben wir das Duschen dann auch, was angesichts der hanebüchenen Elektroinstallation am Duschkopf, der wie ein Durchlauferhitzer arbeitet, nicht unbedingt zu erwarten war ... Das Mittagessen nehmen wir verspätet im großen Speisesaal ein. Die Fenster mit großen bunten Szenen bolivianischen Lebens aus den vierziger Jahren fallen sofort ins Auge. Außer uns gibt es keine Gäste, weder im Speisesaal noch später abends auf den Zimmern. Nur wenige Reisende verirren sich überhaupt nach "Sorata". Das Essen ist nicht toll aber genießbar. Ironische Bemerkungen über das heutige Quartier heben an und hören bis zur Abreise nicht mehr auf. Obwohl wir anlässlich eines Nachmittagsspazierganges durch die Stadt feststellen werden, dass uns der Veranstalter mit dem "Gran Hotel" sicher das beste überhaupt verfügbare Quartier reserviert hat. Über andere breite ich den Mantel des Schweigens.

Bis zum Abendessen bleibt genügend Zeit für einen Stadtbesuch. Sorata war vor 50, 60 Jahren wegen der vielen Minen in den umliegenden Bergen ein bedeutender Ort. Seit der Goldrausch vorbei ist verfällt die Stadt und befindet sich derzeit in unsäglichem Zustand. Mir vermittelt sie Tristesse und Endzeitstimmung. Man merkt, dass den Besitzern der schönen Häuser aus der vorletzten Jahrhundertwende das Geld für Renovierungen fehlt. Ines und ich unterbrechen den Rundgang auf einer Bank der mit Palmen bestandenen Plaza. Palmen! Wir sind "nur" noch 2800m hoch. Hier ist es deutlich wärmer als auf dem zugigen Altiplano. Wir beschließen im "Residencial Sorata" etwas zu trinken. In der finsteren, herunter gekommenen Gaststube sitzt die Wirtin mit einer anderen einheimischen Frau. Sie gibt uns zu verstehen, dass wir im Garten des Innenhofes Platz nehmen sollen. Nach ein wenig Orientierungsschwierigkeiten finden wir den auch. Wir bestellen Kaffee und eine Schokolade. Der völlig verwilderte Garten hat etwas Märchenhaftes. Und er zieht Vögel an. Das ist ja ein Kolibri! Der erste, den ich je zu Gesicht bekam. Mit hochfrequentem Flügelschlag steuert er Blüte um Blüte an. Der Besuch hat sich aber nicht nur des Vogels wegen gelohnt, wir bekamen auch mit, dass die Zimmer dieses Etablissements sicher noch eine Kategorie schlechter sind als in unserem Hotel. Irgendwie beruhigend ... Rund 1000 Meter tiefer liegend als unsere vorangegangenen Stationen, erhoffe ich mir von "Sorata" noch etwas anderes: Endlich wieder eine kopfschmerzfreie Nacht!