Hier am Zongo-Pass (4700m)
im Basis Camp des "Huayna Potosí" erwarten uns die beiden Bergführer Marco und
Javier. Sie haben auch unsere Eisausrüstung, also Pickel, Steigeisen,
Anseilgurt, usw. aus dem Hotel mitgebracht. Während ich ein wenig desorientiert
damit beginne, die Trekkingausrüstung von Ines und mir zu trennen, bauen Koch und
Helfer das Esszelt auf. Nach einem improvisierten gemeinsamen Mittagessen wird
die Gruppe nach La Paz zurückkehren, während Torsten, Michael, Frank und ich
den Weg zum Hochlager einschlagen. Mit sehr gemischten Gefühlen verabschiede
ich mich von Ines. Einerseits weiß ich nicht was mir selbst bevor steht, zum
anderen wird sie an einer Fahrt in die "Yungas" über die angeblich gefährlichste
Straße der Welt teilnehmen.
Marco läuft voraus,
dahinter wir vier und zum Schluss Javier. Wir gehen langsam, haben Zeit. Dieser
Aufstieg zum Felsencamp ist auch ein Test. Die Bergführer wollen sehen, wie wir
mit der Höhe zurechtkommen. Zwei Lager stehen grundsätzlich als Ausgangspunkt
für eine Besteigung
des "Huayna Potosí" zur Verfügung. Das in 5400 Meter auf
einem flachen Gletscherabschnitt gelegene "Campamento Argentino" trennen vom
Gipfel "nur" 700 Höhenmeter. Nachteilig sind dort tiefere Temperaturen
und dünnere Luft im Hinblick auf die Nächtigung. Für uns kommt nur das Felsencamp auf 5130 Meter Höhe in Frage, weil unsere Begleitmannschaft bis in
diese eisfrei begehbare Höhe folgen kann. Koch und Helfer vom Trekking werden
uns auch dort oben betreuen.
Es geht zügig durch
Moränengelände voran. Vor dem steilen, blockigen Schlussanstieg zum "Campo Alto
Roca" rasten wir kurz. Hier holen uns die guten Geister ein. Auf ihren
Tragegestellen sind voluminöse Lasten verschnürt. Sie rasten gleichfalls. Ein
bisschen aufpassen
muss man beim Aufstieg durch diese Schutthalde schon.
Zwischen den Steinen liegt verschiedentlich Altschnee, der die Sache rutschig
macht. Als wir oben ankommen, sind die vier guten Geister schon dabei, auf einer
Art Terrasse drei Zelte aufzubauen: Zwei für uns und eines für
sich. Ich erkunde noch schnell das gesamte Felsencamp. Man stelle sich also
einen Schutthaufen aus Steinen aller Größen vor, jetzt eisfrei, aber doch vor
Urzeiten vom Gletscher zurecht geschoben. Unmittelbar dahinter beginnt das Eis.
In alle möglichen Vertiefungen dieses Schutthaufens sind die Zelte der
Bergsteiger als bunte Tupfer "drapiert". Irgendwie muss jeder versuchen, eine
einigermaßen ebene Liegefläche zu bekommen. Ich kehre zu unserem Platz zurück
und stelle zufrieden fest, dass wir mit unserer planierten Terrasse das beste
Los gezogen haben. Marco und Javier stellen ihr Logis etwas unterhalb selbst
auf. Frank zieht mit mir in die bekannte Nr. 10 ein, Michael und Torsten setzen
ihre bisherige "Zeltehe" fort. In einem durch aufgeschichtete Steine
windgeschützten Eck hat der Koch schon heißes Wasser zubereitet. Eine Felsplatte
wurde zum Tisch umfunktioniert,
einige große Steine dienen als Sitzgelegenheit.
Der heutigen "Teatime" steht damit nichts mehr im Wege. Dabei erläutern
die Bergführer den Ablauf und teilen die Seilschaften ein. Marco wird Torsten
und Michael ans Seil nehmen, Javier sichert Frank und mich. Damit erfüllen sie
Franks und meinen Wunsch, ohne ihn äußern zu müssen.
Der Teatime folgt der
Ausrüstungscheck. Marco und Javier lassen sich Steigeisen und Klettergurte
vorführen und prüfen die zur Probe verlangten Anseilknoten. Mein gesteckter
Schlauchbandknoten ist Javier zu kompliziert, er schlägt mir einen einfachen
Sackstich vor. Das nehme ich gerne an, weil der andere mich ohnehin immer
genervt hat. Ich hielt ihn halt für sicherer. Marco erklärt, dass wir an der
einen oder anderen Stelle auch Fixseile vorfinden werden und deshalb eine
Extraschlinge mit Karabiner bereit halten sollen. Das stellt mich vor ein
Problem. Ich habe nur das Allernötigste dabei, um Gewicht zu sparen. Zum Glück
kann Frank mir aushelfen. Überhaupt ist meine Ausrüstung eigentlich nicht für
diese Höhen ausgelegt und tauglich. Sie ist ein gewichtsoptimierter Kompromiss
zwischen Trekking und Bergsteigen. Schon seit Tagen hadere ich mit der
Entscheidung, keine gut gegen Kälte isolierten Plastikschuhe mitgenommen zu
haben. Meine dünnen Trekking-Schuhe aus Leder (Steigeisen mit Bandbefestigung)
haben schon 1000 Meter tiefer die Kälte nicht abhalten können. Torsten hat mir einen
Plastiksack zur Verfügung gestellt in dem ich die Schuhe verstauen werde. Dann
nehme ich sie mit in
den Schlafsack, um sie vor Auskühlung zu schützen. Hier oben und mit
den Klimaerfahrungen der letzten Tage ist mir völlig klar, dass ich die Tour mit
meiner Ausstattung bei Schlechtwetter vergessen könnte ... Marco und Javier korrigieren hie und da, sind
letztlich aber ganz zufrieden, keine totalen Anfänger vor sich zu haben. Jeder
von uns hat diverse Eistouren hinter sich.
Die Zeit bis zum Sonnenuntergang vergeht mit Reden, Schauen und natürlich dem Abendessen. Unglaublich: Sogar hier oben schafft es der Koch, ein Drei-Gänge-Menü auf den Felsentisch zu zaubern. Zu Torstens Leidwesen ausgerechnet Huhn im Hauptgang. Langsam wird es dunkler. Die Aussicht von hier oben ist reizvoll. Über Sättel und Grate erfasst der Blick Richtung Osten ein Meer aus Wolken. "Yungas" und Regenwald scheinen aus dieser Perspektive undurchdringlich bedeckt. Als die Sonne untergeht ist auch in den Hochtälern unter uns wieder Nebel aufgezogen.
Nach Einbruch der Dunkelheit schlüpfen wir in den Schlafsack. Erstens ist es jetzt zu kalt draußen, zudem wird die Nacht bereits um zwei Uhr für uns zu Ende sein. Im Schlafsack liege ich wie eine Zwiebel: Von der winddichten, dünnen Jacke abgesehen, habe ich alle mitgeführten Klamotten angezogen. Anfangs ist mir zu warm, was sich dann aber gibt. Dank der von Ines überlassenen Daunenpatschen fühlen sich auch meine Füße wohl. Wegen der Bergschuhe ist es im Bereich der Beine im Schlafsack etwas eng aber auch das stört nicht wirklich. Trotzdem kann ich nicht einschlafen. Es ist zu früh und ich bin nicht wirklich müde. Ständig plagen mich Zweifel: Werde ich stark genug sein? Wird das mit meiner Ausrüstung klappen? Habe ich genug Erfahrung für diesen Berg? Über solches Grübeln tropfen quälend langsam und schlaflos die Minuten dahin. Frank neben mir scheint es ähnlich zu ergehen. Zudem müssen wir beide noch zwei Mal nach draußen und Flüssigkeit loswerden. Für mich sehr unangenehm, weil meine Schuhe im Schlafsack stecken und ich über die Steine in Strümpfen tapsen muss ... Wir erledigen das ohne Absprache gleichzeitig, damit man sich nicht gegenseitig unnötig stört. Später muss ich dann doch noch eingenickt sein, jedenfalls behauptet Frank das später. Lange vor zwei Uhr bin ich immer wieder wach und daher froh, als das Signal zum Aufstehen kommt.
Noch im Zelt lege ich den Klettergurt an, mache mich abmarschbereit. Bloß nicht unnötig auskühlen. Erst im letzten Moment hole ich die Schuhe aus dem Schlafsack, pelle sie aus der Umhüllung und ziehe sie sofort an. Die sind also erst mal warm! Draußen ist es nicht so kalt wie befürchtet. Im Dunklen stolpere ich immer wieder herum, spare schon jetzt Energie in den Batterien der Stirnlampe. Wenn möglich, will ich vermeiden sie zu wechseln. Zu selten hantiere ich mit der Eisausrüstung. So dauert es länger als nötig, bis jedes Detail richtig sitzt oder am richtigen Platz im Rucksack liegt. Das "Frühstück" nehmen wir im Stehen ein. Durch die Aufregung fühle ich mich gehetzt. Objektiv betrachtet ist das überhaupt nicht so. Ich würge sogar einen Porridge runter. Es ist rein "taktisches" Essen. Hunger habe ich absolut keinen, weiß aber, dass ich den "Brennstoff" in ein paar Stunden dringend brauchen werde.
Fertig. Ausrüstung aufnehmen. Nichts vergessen? Nein. Endlich brechen wir auf. Stolpernd, torkelnd, rumpelnd überwinden wir den Schutthaufen, den man das "Felsencamp" nennt. An vielen Stellen irrlichtert es aus Stirnlampen, schimmert es hell durch Zeltbahnen. Halblaute Gesprächsfetzen, Aufbruchsgeräusche allenthalben. Wir stehen am Gletscherrand. Ich lege die Steigeisen an. Das Durchziehen und Spannen der Halteriemen scheint mir wahnsinnig anstrengend. Immerhin bin ich danach richtig wach. Javier hat das Seil eingeteilt und die Schlaufen zum Einseilen der Klettergurte geknüpft. Er wird vorausgehen, hinter ihm ich, am Seilende Frank.
Wir betreten den Gletscher. Die Zacken der Steigeisen greifen, eindringen können sie kaum. Steinhart gefroren ist das Eis. Die ersten Minuten dienen dem Eingehen: In der gut sichtbaren Spur bleiben, Geschwindigkeit von Javier aufnehmen, Atem- und Gehrhythmus finden, das Seil straff halten und nicht auf dem Boden schleifen lassen. Bin grenzenlos aufmerksam, gespannt, konzentriert. Steilere Passagen wechseln mit flacheren. Anfänglich spüre ich die Anstrengung nicht so sehr. Allerdings signalisiert mein Körper nicht dieselbe Leistungsfähigkeit, wie an den vorauf gegangen Tagen. Liegt es an der Höhe? Meine Füße sind zwischenzeitlich nicht mehr warm, ich habe aber noch gut Gefühl darin.
Dunkelheit liegt undurchdringlich über allem. Die Welt ist auf die Lichtkegel unserer Stirnlampen geschrumpft. Jenseits davon gibt es nichts. Es ist einer der Augenblicke, in denen ich mich klein und unbedeutend wie ein Staubkorn fühle. Es geht gut voran. Meine Füße werden kälter. Vor und hinter uns knirschende Gehgeräusche und weit verstreut zitternder Lichtschein aus punktförmigen Quellen. Ab und zu, ganz kurz, traue ich mich nach oben zu sehen. Über uns die Sterne. Aber wenn da vorne und hinten und oben noch Lichtpunkte zu sehen sind, dann existiert das Draußen doch noch ...
Manchmal bleiben wir kurz stehen, warten auf die andere Seilschaft. Sind sie langsamer? Javier und Marco verständigen sich durch lautes Rufen. Manchmal verstehe ich Teile ihres Spanischen, wie gestern. Aber leider zu wenig, um zu kapieren was vorgeht. Bei so einem Halt fragt Javier, ob sein Tempo passt. Frank und ich sind einverstanden. Im Moment komme ich damit gut zurecht.
Ich spare Energie in meinen Batterien. Immer wenn ich glaube es verantworten zu können und genug von Javiers Lichtschein abbekomme, schalte ich meine eigene Stirnlampe aus. Stures Vorwärtsgehen in der Dunkelheit. Immer wieder die gleichen Empfindungen und Gedanken, oft nur um das eigene Verhalten zu korrigieren: Schneller gehen - jetzt langsamer, das Seil hängt durch - Pickel in die andere Hand wechseln - mach die Lampe aus, spar' Strom - hier ist es abschüssig, schalt' die Funzel wieder ein - geh konzentrierter - Mann ist das dunkel - mach den Reißverschluss der Jacke auf es ist zu warm - Mist, meine Zehen sind weg! Sicher schon eine Stunde. Weniger? Mehr? Fast scheint es, als verlöre ich mit der Orientierung in der Dunkelheit auch den Bezug zur Zeit.
Wieder ein Stop als Reaktion auf lautes Rufen von Marco. Es dauert Minuten bis die zweite Gruppe aufschließt. Andere Seilschaften überholen unterdessen. Michael hat Probleme! Unsere beiden erfahrenen Bergführer wissen Rat: Torsten wird sich bei uns mit einseilen. Hinter mir, Frank bleibt Seilletzter. Marco wird in vermindertem Tempo versuchen, Michael alleine nach oben zu lotsen. Mit flinken, gekonnten Bewegungen ändert Javier die Seilkonfiguration, knüpft eine vierte Schlaufe. Das Seil strafft sich Mann um Mann, wir gehen weiter. Während der langen Stehzeit habe ich durch heftiges Bewegen eine Wiederbelebung meiner Zehen versucht. Sie bleiben taub, immerhin gehorchen sie noch.
Kein Zweifel, der Gletscher flacht ab. Schemenhaft sind Zelte zu erkennen. "Ist das das 'Campamento Argentino'?" frage ich Javier. Er bestätigt es. Also sind wir jetzt 5400 Meter hoch. Kein Halten, weiter - weiter. Eis und Harsch knirschen unter den steigeisenbewehrten Schuhen, seit Stunden schon. Oder doch noch nicht so lange? Langsam spüre ich massiv die Anstrengung in den Beinen und meine Lunge fährt Extraschichten ... Na ja, es geht ja auch wieder steiler nach oben. Die Steigung nimmt sogar ständig zu. Ich lasse den destruktiven Skeptiker in meinem Kopf reden: 'Das wird heute beinhart. Wenn du es da rauf schaffen willst, musst du alles geben. Wirklich alles!' Meine Seilschaft vollführt einen Schwenk nach rechts oben und steigt geradewegs auf eine Ansammlung von Stirnlampen zu. Stau am Berg!
Noch ein paar Schritte,
dann
bilden wir das Ende der Warteschlange. Javier erklärt, dass die Bergführer der vor uns
wartenden Seilschaften dabei sind ein Fixseil zu legen. Das kann dauern, denke
ich mir. Priorität haben jetzt meine Zehen. Ich versuche auf der
Stelle zu treten. Gleichzeitig bewege ich die Zehen heftig in den Schuhen. Zum Glück
beginnt sich das Bergsteigerknäuel schon nach relativ kurzer Zeit aufzulösen.
Im huschenden Schimmer mehrerer Stirnlampen erfasse ich den vor uns liegenden Steilaufwurf.
Die äußerste Anstrengung, mit der einer nach dem anderen sich da hochwuchtet, bleibt mir nicht verborgen. Wir sind dran. Spielerisch leicht überwindet Javier die ersten
Tritte, mit blinder Sicherheit handhabt er Steigeisen und Pickel. Auf sein
Kommando setze ich mich in Bewegung, hake den Karabiner in das Fixseil. Kurz vor
dem Einstieg muss ich über eine Schneebrücke. Die Dunkelheit verbirgt die sicher
gewaltige Spalte. Erster Tritt, Frontzacken einsetzen, am Fixseil festhalten,
hochziehen, Pickel zur Sicherung einschlagen - hält - dran weiter ziehen,
zweiten Fuß in Vertiefung setzen, auf die Frontzacken verlassen, am Fixseil
nachfassen, Pickel lockern, neu einschlagen, höher, immer höher. Mein Herz pumpt
unterdessen rasend. Maximale Anstrengung, höchste Konzentration! Stellen solcher
Schwierigkeit musste ich noch nie meistern.
Aber
nach 15, 20 Tritten wird das Eis schon wieder flacher, gottlob! Die beiden
anderen folgen, Javier sichert. Geschafft! Noch gestern beim Abschied hatte ich
zum wiederholten Mal bedauert, dass Ines sich diesen Berg nicht zutraut. Obwohl
sie schon mehrmals, allerdings ausnahmslos unschwierig, auf Gletschern mit mir
unterwegs war. Jetzt bin ich froh über ihre Entscheidung.
Der Raum
scheint geschrumpft und die Zeit unbekannten, nicht mal dem Einsteinschen Genius
einsichtigen Gesetzen zu gehorchen.
Wir gehen und steigen, steigen und gehen ... Stunden müssen vergangen sein, und doch kommt es
mir vor, als wären wir gerade erst aufgebrochen. Immer wieder müssen breite
Spalten umgangen werden, bis eine Schneebrücke oder ein großer Schritt ihre
Überquerung ermöglichen. In jedem Moment ist Javier sehr auf Sicherheit bedacht.
Wir haben ihn gestern als sehr freundlichen Menschen kennengelernt. Seine
Stimme kann aber sehr energisch, ja hart, werden, wenn er Anweisungen erteilt
oder einen Fehler korrigiert. Und das ist gut so. Phasenweise komme ich ins Schwitzen und atme
heftig. Als Frank langsameres Tempo einfordert, bin ich froh darüber. Dann fällt
auch noch meine Stirnlampe aus. Die Batterien geben bei diesen Temperaturen
einfach nicht mehr her. Ich kann mich aber ganz gut orientieren und beschließe
auf Licht zu verzichten.
Endlich! Endlich kündet ein
heller Schimmer im Osten vom nahenden Tag. Bald wird die Sonne aufgehen. Schon
ist die Dämmerung fortgeschritten und erlaubt gutes Sehen. Die
Anstrengung macht mir immer mehr zu schaffen, obwohl der Gletscher meist nur
mäßig geneigt ist. Der rote Lichtstreifen am Horizont lässt mein Fotoherz höher
schlagen. Ich bitte Javier um eine Pause zum Fotografieren. Ein paar Minuten
weiter steigt der Feuerball dann tatsächlich über den Horizont. Alles wird
in warmes, rotes Licht getaucht. Wieder fordere ich einen Fotohalt. Niemand
ist darüber böse. Für eine kleine Weile stehen und gehen wir auf rotem Eis,
einfach fantastisch! Erst jetzt bemerke ich links voraus den Gipfel des Potosí.
Und ich kann im Gipfelhang ein paar schwarze Punkte im roten Eis ausmachen.
Bergsteiger, die sich kurz unterhalb des Gipfels bewegen. Javier bestätigt, dass
es sich um den Gipfel handelt. Wir stehen etwa auf 5900 Metern Höhe. Das sieht
nicht mehr sehr weit aus.
Ich
weiß nicht wer die Frage stellte, wie lange wir noch brauchen werden. Jedenfalls
kann ich die Antwort so recht nicht glauben: Noch zwei Stunden? Warum soll das
so lange dauern? Und ich hab doch schon jetzt Schwierigkeiten mit der Kraft ...
Ich schaue mir den
Gipfelaufbau genauer an. Eigentlich ist das nur ein teils mit Eis überkrusteter Schutthaufen auf 6000 Metern Höhe, der sich aus dem hier recht
flachen Gletscher erhebt. Dann stehen wir vor Einstieg in die Schlusswand unmittelbar
vor der Randkluft. Javier lässt uns ein
letztes Mal rasten. Büßereis steht uns bevor. Büßereis entsteht nach längeren
Perioden fehlenden Schneefalls. Bizarr gezackte, messerscharfe, bis zu einem Meter hohe
Eisschneiden und -spitzen.
Dazwischen haben sich Rinnen gebildet. Und in diese
Wüstenei steigen wir jetzt ein. An der Randkluft finde ich kaum Halt und Tritte.
Pickel hilf! Mit aller Kraft schlage ich ihn ins Eis - hält nicht, bricht aus.
Wieder und wieder bis es gelingt. Allein davon bin ich völlig außer Atem.
Irgendwie halte ich mich halb am Seil fest und bekomme einen kurzes, hartes
Kommando von oben: "Nicht am Seil festhalten"! Ich versuche es anders, der
Pickel hält, die Eisen knirschen aber sie greifen - mit letzter Kraft wuchte
ich mich hoch. Schweratmend versuche ich zu Javier aufzuschließen. Ich stehe,
warte. Die Anderen folgen mit ähnlichen Problemen, der Puls beruhigt sich
wieder. Javier steigt voraus, wir warten bis das Seil sich strafft. Weiter dann , zwei,
drei Schritte in der Eisrinne, erneut muss ich heftig atmend verharren. Das
Einschlagen des Pickels gerät immer mehr zum blindwütigen Dreschen. Oft
rutscht er ab, weil ich ungenau arbeite. Auch, weil dieses verdammte Büßereis keine
Flächen zum Treffen bietet. Mehrfach splittert das spröde Zeug einfach weg. Wir
machen viele Fehler und müssen uns ständige Korrekturen von Javier anhören. Wer
kann sich denn noch konzentrieren, wer präzise steigen, wenn er völlig fertig
ist? Aus ihren Bewegungen und gelegentlichen kraftlosen Bemerkungen schließe
ich, dass Frank und Torsten genau so kämpfen wie ich.
Immer wieder mal ist das Seil im Weg und ich muss mühsam drüber steigen. Um permanent auf den Frontzacken zu stehen fehlt mir die Kraft. So geht es manchmal einfach nicht weiter in der Rinne. Dann suche ich Tritt auf der Eisschneide oder wechsele in eine andere Rinne des 50° steilen Hanges. Javier gefällt die für ihn unlogische Wegsuche nicht. Nicht bei mir und nicht bei den anderen beiden. Ja, nimmt denn dieser Sch...hang kein Ende mehr? Nie wieder! Nie wieder werde ich mir so was zumuten! Immerhin eine positive Wirkung kann ich dieser "Viecherei" zuschreiben. In meinen Füßen ist nicht nur wieder Gefühl, sie werden sogar warm!
Und
nun wird es
zusätzlich
eng am Berg. Andere Seilschaften schuften sich auch hier herauf. Die Bergführer einer
großen englischsprachigen Gruppe hatten vor unserem Einstieg begonnen, ein
Fixseil über den Hang zu legen. An dem hangeln sich jetzt etliche nach oben.
Meter um Meter geht es voran. Wieder einmal verliere ich völlig mein
Zeitgefühl. Wir hängen doch jetzt schon ewig in dieser blöden Wand ... Immer
derselbe Ablauf, Javier voraus - dann ein paar Meter nach oben kämpfen, zwei,
drei Tritte - atmen, nein hecheln - noch zwei, zu Javier aufschließen - warten, zu
Atem kommen, Puls beruhigen, Frank und Torsten nachkommen lassen ... Javier strengt
das alles überhaupt nicht an. Zwischendrin findet er noch genügend Zeit
und Luft mit den Bergführern der anderen Gruppen zu scherzen.
Dann
ist die Tortur vorbei. Ich begreife nicht gleich. Javier hat sich einen sicheren
Standplatz gesucht. Fünf vielleicht sechs Meter unter dem Gipfel beginnt er mit drei Eisschrauben
den Standplatz zu sichern. Von hier aus soll jeder von uns gesichert nach oben
steigen. Der Gipel des "Potosí"
besteht aus einer Wechte, die in einer vereisten
Schneide ausläuft. Sie bräche ab, wenn man sich drauf stellte. Wieder
einmal bewundere ich die Fingerfertigkeit von Javier. Erst beim Eindrehen der Eisschrauben,
dann beim ständigen Ändern der Sicherung. Mit traumwandlerischer Sicherheit
knüpft er Knoten. Im Durcheinander vieler Seile, Seilenden, Knoten gibt es kein
Verheddern. Der große Moment ist da: Ich darf nach oben. Dann schaue ich über den Rand.
Zuerst Fotos. Dokumentieren. Dann schauen, staunen. Ich bin tatsächlich 6088
Meter hoch. Aber ich fühle keinen Triumph. Bin zu fertig. Muss da
ja auch noch runter ... Sechs Stunden haben wir für die 1000 Höhenmeter
gebraucht.
Rechts von
mir taucht plötzlich einer der Engländer mit seinem Bergführer auf. Der will
hier fotografiert werden. Sein Bergführer steigt unter mir vorbei auf meine
linke Seite und bedient die Kamera. Es klappt nicht. Minutenlang versucht er es
vergebens. Javier fordert mich schon zum wiederholten Mal auf runter zu kommen.
Aber wenn die endlich fertig sind mit ihrem Fotomanöver, dann kann der mich doch
auch noch schnell ... Er steigt jedoch unverrichteter Dinge wieder zurück. Ich
gebe meine Absicht auf, will die Seilschaft nicht weiter warten lassen. Im
Abstieg bekomme ich
dann mit, dass die Batterien leer sind. Da steigt der Typ tatsächlich das Stück
bis zu seinem Rucksack ab, wechselt die Batterien und klettert wieder hinauf. Er
gibt keine Ruhe, bis sein Konterfei im Kasten ist ... Wir stehen relativ dicht
neben dem Fixseil der "Engländer". Immer wieder rumpelt einer von denen an uns
vorbei, rauf oder runter. Ungelenkes Hantieren mit der Ausrüstung verrät die
fehlende Praxis. Einer dieser Chaoten bringt mich dabei fast zu Fall und fängt
sich eine lautstarke Beschwerde ein.
Wir konnten über den Rand sehen, haben ein wenig gerastet und auch getrunken. Für mehr ist dieser Ort zu unbequem und zu gefährlich. Also wieder runter. Das geht zwar etwas schneller, ist jedoch keineswegs weniger belastend. Objektiv betrachtet sind die Verhältnisse so, dass seilfreies Absteigen einfacher und weniger anstrengend wäre. Javier ist natürlich verpflichtet uns beim Abstieg zu sichern. Und jeder Fehltritt hätte in diesem scharfkantigen Eis sicher üble Verletzungen zur Folge ...
Irgendwann
stehe ich wieder am Fuß des Hanges. Das Schlimmste liegt hinter uns, Zeit zum Essen und Trinken. Langsam gewinne ich meine Kraft zurück. Javier wirkt
jetzt sehr zufrieden und ist wieder ganz der nette, liebenswerte Gesprächspartner.
Ein großartiger Bergführer! Der Rückweg fällt mir leichter. Frank ist jetzt Seilerster, Javier sichert am Seilende: Umgekehrte Reihenfolge wie beim
Aufstieg. Frank bremst, bewegt sich sehr langsam. Ich könnte schneller gehen. Aber
wozu, wir haben ja Zeit, die Schneebrücken über den Spalten sind immer noch
betonhart gefroren. Wiederholt fordert uns Javier auf, das Seil nicht am Boden
schleifen zu lassen. Er will Konzentration, Aufmerksamkeit, bis zum Schluss. Ab
und zu löse ich einen "Fotostop" aus. Am
dankbarsten ist der müde Frank. Erschöpft stützt er sich ein ums andere Mal auf seinen Eispickel. Dann
stehen wir
oberhalb der Schlüsselstelle. Im Abstieg ist sie
leichter zu überwinden. Ich brauche mich nicht hochzuziehen, nur halten. Man steigt dem dunklen
Schlund einer großen Spalte entgegen - zwei, drei Meter nahezu senkrecht. Aber es
geht. Angst habe ich auch keine. So, nun noch über die Schneebrücke und die letzte
wirkliche Schwierigkeit
ist bewältigt. Vorbei am "Campamento Argentino" durch
die hier flache Eiswanne. Frank wankt ein bisschen. Der ist echt ausgepowert.
Sollten wir nicht besser eine Pause machen? Sicher noch eine Stunde
auf dem Eis trennt uns vom Lager ... In der letzten halben Stunde Gletscher eine letzte
Prüfung: Die Vormittagssonne hatte das Eis in der Spur angetaut. Nun ist es
wieder gefroren, erstarrt zu Blankeis! Vorsichtig und mit absichtlich hartem
Einsatz der Steigeisen finde ich auch hier guten Halt.
Rückkehr
ins Camp:
Marco, der Koch, seine Helfer und Michael gratulieren uns. Marco und Michael
kehrten an der Schlüsselstelle um. Michael fehlte heute einfach die Kraft.
Mir tut es leid. Es wäre schöner gewesen, wenn alle es bis nach oben gepackt
hätten. Nach einer Stunde haben wir ausgiebig gegessen, getrunken und die
im Zelt zurück
gelassene Ausrüstung zusammengepackt. Wir steigen ab. Die lange Pause hat
mir die
Kraft zurückgebracht. Der Abstieg fällt mir leicht. Am Basislager wartet dann schon
unser Kleinbus. Es wird eingeladen, wir verteilen noch einmal Trinkgelder und
dann geht's zurück nach La Paz. Immer wieder auf der Rückfahrt in dem
knallvollen, stickigen Toyota-Transporter kann ich "ihn" sehen, den "Huayna
Potosí". Er hat mich zu sich rauf gelassen und nun gehört er mir!