La Paz ist die größte Stadt Boliviens. Zusammen mit der auf Niveau des Altiplano vorgelagerten, nominell selbständigen und erst in den letzten Jahrzehnten gewucherten Vorstadt El Alto leben hier weit über eine Million Menschen. Obwohl nicht Hauptstadt stellt La Paz das Zentrum aller politischen und wirtschaftlichen Macht des Landes dar. Blick vom Aussichtspunkt im Stadtviertel "San Juan" auf das Geschäftszentrum von La PazDieses urbane Herz Boliviens vermag den Besucher zunächst durch seine außergewöhnliche Lage zu beeindrucken: Aus dem Flugzeug schweift der Blick über die weite Hochebene des Altiplano, erfasst dann das Häusermeer El Altos und versinkt in der jäh eingeschnittenen Schlucht von La Paz. Von hier oben wirkt die Stadt grau und trostlos. Das Auge findet keine grüne "Oase" zum Verweilen ...

Über die Schlucht mit den Hochhäusern von La Paz setzt unsere Boeing 777 der brasilianischen Fluggesellschaft Varig zur Landung an. Wir kommen aus São Paulo. Direktflüge von Deutschland nach Bolivien sind nicht zu bekommen. In São Paulo haben wir auch erstmals die anderen Gruppenmitglieder zu Gesicht bekommen. Auf 4100 Meter Seehöhe steigen wir aus und unterwerfen uns den Zollformalitäten. Erster Eindruck sind die bürokratischen Wirrnisse auszufüllender Zettel (weiß: Zollerklärung, grün: Einreiseformular). Ganz besonders wichtig ist der grüne Wisch, dessen unterer Abschnitt die ganze Zeit über im Pass mitgeführt werden muss. Ein paar heftige Herzschläge noch, dann haben wir auch unsere zwei Seesäcke auf die Karre verladen. Nach dem überhasteten Umsteigen in Frankfurt hatte ich wirklich Sorge, ob die Zeit zum Verladen des Gepäcks ausgereicht hatte. Erwartungsvoll streben wir dem Ausgang zu und ... natürlich werden wir von der Dame bei der Zollkontrolle für die Stichprobe ausersehen. Also Seesäcke auf. Sie kramt ein bisschen drin herum, hätte aber auf diese Weise keine Chance etwas (was eigentlich?) zu finden.

In der Vorhalle lasse ich den Blick schweifen, suche unseren Führer. Moises Flores heißt er, wie ich aus den Unterlagen weiß. Irgendwann entdecke ich dann einen Zettel mit Aufschrift "Hauser" in der Hand eines kleinen, gedrungenen Mannes von dunkelbrauner Hautfarbe und unverkennbar indianischen Zügen. Er hat schon die Schar der anderen Trekker um sich versammelt. Unverwechselbar mit ihrern rot-blauen Hauser- und auch grellgrünen Seesäcken vom DAV Summitclub. In gutem Deutsch begrüßt er uns und bugsiert die Gruppe zu einem Kleinbus vor dem Flughafengebäude. Erstmals demonstriert uns der Fahrer, wie Busdächer in Bolivien beladen werden: Die Seesäcke türmen sich derart hoch auf, dass ich Gedanken an den Schwerpunkt des Fahrzeuges einfach mal unterdrücke ... Ich wende mich von der Szene ab und unternehme ein paar Schritte in die Umgebung. In der Ferne beeindrucken zwei gletscherbewehrte 6000er. Grund genug die ersten von über 1600 Fotos zu schießen ...

Vom "Mirador" kurz nach dem Flughafen kann man ganz La Paz überblicken.Bei der Fahrt vom Flughafen in El Alto nach La Paz lohnt ein erster Halt am Rand der Schlucht. Von diesem Mirador (Aussichtspunkt) hat man einen atemberaubenden Blick über Tal und Bebauung von La Paz: drei-, vierhundert Meter tiefer markieren zahlreiche Hochhäuser den geschäftlichen Mittelpunkt der Stadt. Über die seitlichen Hänge schickt die Stadt ihre ziegelroten Ausläufer zur Abbruchkante des Altiplano. Über den jenseitigen, graubraunen Hängen und dem Dunst der Großstadt thront der über 6400 Meter hohe Klotz des Illimani. Obwohl tief im Hintergrund stehend, ist er so etwas wie das Wahrzeichen der Stadt. Er wird uns auf vielen Ansichtskarten, Gemälden und Wandbehängen zu La Paz begegnen. Am nächsten Tag, bei der Stadtbesichtigung, wird uns unser "bolivianisches Universallexikon" - gemeint ist Moises Flores - den Zusammenhang zwischen Wohnhöhe und gesellschaftlicher Stellung erklären: Je höher die Wohnlage, umso dünner und kälter ist die Luft. Wer es sich leisten kann nimmt seinen Wohnsitz tief unten in den wärmeren, klimatisch weniger ausgesetzten Stadtteilen. Anders als in Europa ist die fantastische Aussicht der Hanglage hier wertlos.

Unser Bus nutzt die vierspurige, mautpflichtige Hauptstraße, um in weitem Bogen und stetem Gefälle tiefer in die Stadt vorzudringen. Nach Passieren eines Gürtels von Eukalyptuswäldern nimmt uns die Mischbebauung der oberen, äußeren Bezirke auf. Von den Passanten - unverkennbar und ausnahmslos indianischer Herkunft - ziehen die Frauen in traditionellen, beinahe knöchellangen, oft farbenfrohen Kleidern den Blick auf sich. Um die Schultern wärmt sie ein Umhang, den Kopf ziert der typische, uns Europäer an englische Bowlerhats erinnernde Hut. Ihre Habseligkeiten oder bei Bedarf auch ihren Nachwuchs tragen sie auf dem Rücken in einem tragfähig geschlungenen Tuch.

Auf der Avenida des 16. Juli vor dem Reiterstandbild des Nationalhelden Simon Bolivar.Nach ungefähr dreißig Minuten erreichen wir über die Hauptstraße Avenida des 16. Juli das Hotel "Plaza". Von den fünf Sternen, die man sich nach bolivianischem Standard wohl selbst gegeben hat, dürften international höchstens 3½ übrig bleiben. Schon beim Einchecken merke ich, dass mir irgendwie die Konzentrationsfähigkeit abhanden gekommen ist. So wird der unvermeidliche Geldwechsel an der Rezeption zum geistigen Kraftakt. Selbst für so etwas Einfaches wie eine Terminabsprache - Moises Flores wird uns am Abend in ein typisches Restaurant der Stadt begleiten - muss ich alle verfügbare "Geisteskraft" aufbieten. Endlich auf dem gemütlichen und großen Zimmer angekommen, spüre ich auch leichte Kopfschmerzen. Kein Zweifel: Die sauerstoffarme Luft ist für diesen Zustand verantwortlich, der dem Morgen nach Volltrunkenheit gleicht. Nun will ich es genau wissen. Ich krame meinen Pulsmesser hervor und lege den Sender an: Obwohl ich eine Weile ganz ruhig auf dem Bett sitzen bleibe, fällt der Puls nicht unter 85! Normalerweise läge mein Puls in dieser Haltung ungefähr 30 Schläge pro Minute niedriger.

Wir haben jetzt über drei Stunden Zeit bis zum Treffpunkt in der Hotellobby und beschließen zwei Stunden zu schlafen. Es ist auch kein Problem nach der Reisestrapaze weg zu dämmern. Danach komme ich allerdings den ganzen Abend nicht mehr auf Touren. Und dieser Abend wird dann noch anstrengend. Zumindest für meinen Brummschädel, dem auch eine Dusche nichts anhaben kann. Nur 15 Minuten laufen wir die abendliche Avenida aufwärts bis zur Plaza San Francisco mit der gleichnamigen Kirche. Moises schlägt ein mäßiges Tempo an. Das reicht aber schon, um heftigstes Pumpen in meiner linken Brustseite auszulösen. Vor der Kirche biegen wir in die "Calle Sagarnaga" ein und erreichen das Restaurant nach wenigen Schritten. Das Essen schmeckt ausgezeichnet. Das ist aber auch das einzig positive an diesem Abend. Außer unserem sind nur zwei weitere Tische besetzt. Trotzdem spult eine Truppe von 5, 6, 7 Akteuren ein ganzes Folkloreprogramm auf der kleinen Bühne ab. Viel zu lauter Musik folgen ebenso lärmende Tanzeinlagen. Es geht wohl allen wie mir: Eigentlich will ich nur meine Ruhe haben und schnellstmöglich zurück ins Hotel.

Die bizarre Welt des "Valle de la Luna".Schon gegen drei Uhr nachts wache ich auf und kämpfe mich in einer Art Halbschlaf dem Morgen entgegen. Der sieht mich appetitlos um's Frühstücksbuffet schleichen. Mehr aus Gewohnheit würge ich ein zwei Toast und Rührei runter. Die Akklimatisationsbeschwerden haben mich voll im Griff. Ines geht es dagegen gut. Kopfschmerzen am Vorabend hat sie mit ein paar Tabletten in den Griff bekommen. Um acht Uhr starten wir im schon bekannten Kleinbus zur Stadtrundfahrt. Erstes Fahrtziel ist das Mondtal, das "Valle de la luna". Immer tiefer hinunter, durch die besseren Stadtviertel und schließlich wieder ein Stück aufwärts, stehen wir nach einer halben Stunde am Eingang des bizarren, vom Wetter modellierten Naturschauspiels: Aus sandigen Gesteinen unterschiedlicher Härtegrade hat das Regenwasser Knubbel, Türmchen und schroffe Zacken geformt. Ein schmaler Pfad erschließt im Auf und Ab der Formationen einen Teil dieser fremdartigen Landschaft. Ein paar Stufen aufwärts und schon beginnt mein Herz heftig zu schlagen, erinnert mich an die 3500 Meter Seehöhe auf der wir uns hier befinden. Am Ende des Pfades sammelt sich die Gruppe auf einem Aussichtshügel kurz vor dem Ausgang des kleinen Parkes. Von hier kann man die ganze Gegend überblicken. Mein Blick bleibt an einem bekannten, in dieser fremdartigen Umgebung dennoch seltsam anmutenden Spektakel hängen. In der Nähe gibt es ein Fußballfeld, auf dem gerade ein sonntäglicher Kick im Gange ist. Auf hartem, sandigem Untergrund jagen die Sportler hinter dem Ball her. Jede Aktion wird von einer veritablen Staubwolke eingehüllt. Fußball auf 3500 Meter Höhe ...

Der Bus fährt zurück in die Stadt. Die Viertel hier "unten" wirken mittelständisch wohlhabend und sauber. Insgesamt bestätigt sich der erste, schon bei der Landung gewonnene Eindruck: Die Stadt hat wenig Grün zu bieten. Höhe und lange Trockenzeit lassen nur spärlichen Bewuchs zu. Bei den Bäumen dominiert der Eukalyptus. Durch den Stadtteil "Miraflores" mit dem "Estadio Olimpico" (Olympiastadion), der weithin größten Sportarena, gewinnen wir an Höhe. Nächstes Ziel ist der Aussichtspunkt im Viertel "San Juan". Ein Großteil des weitläufigen Stadtgebiets von La Paz kann man von hier einsehen. Der Blick fällt hinunter auf die Hochhäuser im Zentrum und arbeitet sichBlick über die "Plaza Murillo" zum Parlamentsgebäude. langsam nach oben bis zur Abbruchkante des Altiplano. Fast das komplette Areal ist dicht an dicht bebaut. Wolkenloser Himmel und trockene Luft sollten eigentlich einen ungetrübten Blick bis hinüber zum "Hausberg" der Stadt, dem Illimani, ermöglichen. Dass seine Gletscher nur schwach herüber glänzen, liegt am Staub des Altiplano, den ein stetig blasender Wind in die Atmosphäre trägt.

Die "Plaza Murillo" mit dem Parlament, dem "Palacio Legislativo" und dem bewachten Präsidentenpalast, "Palacio Gobierno", sind unser nächstes Ziel. Eilig verlasse ich den Bus, um noch die auf der Plaza aufspielende Gruppe einer indianischen Musikgruppe mitzubekommen. Leider lösen sie ihre Formation bereits nach wenigen Minuten auf und gehen in der umstehendenSonntäglicher Frieden auf der "Plaza Murillo". Vor ein paar Wochen fielen hier Schüsse und es gab Tote. Menschenmenge auf. Ein prächtiges Bild geben die in Ponchos von sattem rot gekleideten Indígenas (indianische Bevölkerung) mit ihren tiefbraunen Gesichtern ab. Sonntagsstimmung beherrscht den Platz. Die in der Stadt allerorten gegenwärtigen, zahllosen fliegenden Händler mit ihren schieb- oder rollbaren Verkaufsständen halten auch die Bürgersteige um die Plaza Murillo im Besitz. Wasser, Limonade, Erdnüsse, Popcorn für die Kinder, Süßigkeiten, Kekse und diverse andere nützliche Dinge können hier "ohne Ladenöffnungszeiten" erworben werden. Am wuchtigen Parlamentsgebäude verlassen wir die Plaza und wenden uns dem Präsidentenpalast zu. Auffällig ist die Ergänzung der Ehrenwache mit zwei Militärpolizisten.Eingang zum Präsidentenpalast. Die traditionelle Wache wird durch Militärpolizisten verstärkt. Dem offiziellen Bolivien scheint eine stärkere Bewachung des Übergangspräsidenten nötig. Zu diesem sonnendurchfluteten, beschaulichen Sonntag und dem friedlichen Kommen und Gehen auf der Plaza wollen die unübersehbaren Einschusslöcher an der Fassade eines Gebäudes schräg gegenüber des "Palacio Gobierno" so überhaupt nicht passen. Und doch sind erst wenige Wochen vergangen, seit Salven aus Maschinenpistolen mehrere Demonstranten auf dem Platz töteten. Solcherlei Ereignisse, Proteste, Blockaden, gewaltsame Auseinandersetzungen wiederholen sich in diesem Land von Jahr zu Jahr, wie Moises berichtet. Allerdings entluden sich die Spannungen nie mit solcher Gewalt wie in diesem Jahr. Nach Rücktritt des ungeliebten Präsidenten und dem Versprechen von Neuwahlen noch in 2005 hat sich jedoch der Protest ebenso schnell gelegt, wie er aufgeflammt war. Wären da nicht die Nachrichten der Weltpresse gewesen, der unbedarfte Tourist wüsste die einschussgesprenkelte Gebäudefassade nicht zu deuten.

Das Gesicht der Kolonialzeit ist in der "Calle Jaén" noch erhalten.Einer der schönen Innenhöfe der "Museos Municipales".Wenige Straßen weiter, in der "Calle Jaén", führt uns Moises in eines der "Museos Municipales". Filigraner Goldschmuck von unschätzbarem Wert aus präkolumbianischer Zeit, Funde aus "Tiahuanaco" und anderen Stätten, erwartet uns. Die Ausstellungen in dem Gebäude aus der Kolonialzeit sind über herrliche, sonnendurchflutete Innenhöfe miteinander verbunden. Eine Bank lädt zum Verweilen in pittoresker Umgebung ein. Moises Kenntnisse der Tiahuanaco- und Inka-Kultur scheinen unerschöpflich. Einzelne, besonders schöne oder wichtige Stücke greift er sich heraus und gibt über sie Einblicke in die versunkenen Auf den Märkten der Stadt gibt es die ganze Vielfalt ...Kulturen des Landes. Es ist eine Art Vorbereitung auf den morgigen Besuch in Tiahuanaco. Uns bleibt jedoch nur etwa eine Stunde in der "Calle Jaén", bis uns der Bus wieder aufsammelt und zu den Märkten in der "Calle Max Paredes" und ihren Seitenstraßen bringt. Aus dem Riesenangebot landwirtschaftlicher Erzeugnisse des Landes ersteht Ines... zu kaufen, die Felder und Plantagen des Landes zu bieten haben. für wenige Bolivianos zunächst schmackhafte Bananen und einige Stände weiter noch ein paar Orangen. Recht genervt reagieren einige der Marktfrauen auf die Fotografierversuche der Gruppe. Verständlich: Sie wollen ihr Geschäft machen und nicht als kostenloses Fotomotiv missbraucht werden. Zumal nach Vorstellung vieler Indígenas der Fremde mit jedem Foto ein Stück ihrer Seele nimmt ... Meine Schnappschüsse gelingen trotzdem, mit Zurückhaltung, dezent aus dem Hintergrund geschossen. Vom umtriebigen Markt bis zum touristischen Zentrum der Stadt in der "Calle Linares", dem "Hexenmarkt", sind es nur ein paar Schritte. Touristische Mitbringsel kann man hier ebenso erstehen, wie Kuriosika der mysteriösen Art: Liebestränke in verschiedenen Farben, getrocknete Lamaföten zum Einmauern in die Fundamente neuer Häuser (sie sollen Glück bringen)Skurriles und Seltsames in den Auslagen des Hexenmarktes.und viele andere obskure Gegenstände verwirren das europäische Auge. Rechtschaffen müde und hungrig lässt uns Moises in das Restaurant "Layq'a" in der "Calle Linares" einkehren. Bei schmackhaftem Essen und interessanten Gesprächen vergeht die nächste Stunde. Das angebotene Salatbuffet mag noch so verlocken, Ines und ich verschmähen es. Sicher eine gute Entscheidung, bedenkt man die Krankheiten, die die Gruppe heimsuchen werden und von denen wir zu diesem Zeitpunkt noch nichts wissen ... Vielleicht hier, vielleicht aber auch schon gestern Abend, bei einer dieser Mahlzeiten muss sich Daniel die Salmonellenvergiftung eingefangen haben, die ihn am zweiten Trekkingtag zum Abbrechen zwingen wird.

Der dichte Verkehr von privaten Bussen und Taxen erfordert Vorsicht beim Überqueren einer Straße.Wir kehren zu Fuß ins Hotel zurück. Das Gepäck will für den nächsten Tag sortiert werden. Die Eisausrüstung wird extra gepackt und ein kleiner Rucksack mit Überflüssigem soll gleichfalls im Hotel zurück bleiben. Um 19 Uhr holt Moises Flores die Gruppe wieder am Hotel ab. Nur fünf Minuten unterhalb des Hotels betreten wir ein hübsches Lokal und setzen uns im ersten Stock zu Tisch. Ich hatte mich endlich dazu durchgerungen eine Tablette einzuwerfen und bin nun kopfschmerzfrei und guter Dinge. Alkohol verkneife ich mir trotzdem. Ich bestelle Pizza und bin einigermaßen erstaunt, dass die tatsächlich wie Pizza schmeckt ...